Foto: Skateistan Illustration: Daniel Wiesen
Foto: Skateistan

Darmstadts Skateszene freute sich Anfang März über anrückende Bagger im Bürgerpark, die den Baubeginn des neuen Skateparks einläuteten. Die Initiative, die letztendlich zum Bau führte, kam aus dem Herzen der Szene selbst (siehe Artikel über den Skateboard-Plaza). Doch nicht nur hier bringen Darmstädter Skatefreunde Dinge und Skateboards ins Rollen: In Kabul, Afghanistan lebt und erlebt der ehemalige Darmstädter Max Henninger, wie viel ein Brett, zwei Achsen und vier Rollen bewegen können. Afghanistan ist ein Fleck Erde, dem wir fast täglich begegnen: Zeitungen, Radios und Bildschirme sind voll davon. Unserem medialen Bild nach gibt es in Afghanistan, deutsche Soldaten, politische Probleme, Taliban und Landminen. Keine einladende Kulisse.

Was es in Afghanistan aber tatsächlich vor allem gibt, sind Kinder. Siebzig Prozent der Bevölkerung des vom Krieg geschundenen Landes sind unter 25 Jahre alt. Kinder der unterschiedlichsten ethnischen Gruppen bevölkern die Straßen, verkaufen Kaugummis, waschen Autos – und können nicht Kind sein. Seit 2007 gibt es in der Hauptstadt Kabul jedoch etwas Neues im Fokus der Jugend: Skateboards. „Oliver Percovich skatete 2007 als Erster durch Kabul“, erzählt Max Henninger, der Gründungsmitglied der Nichtregierungs-Organisation (NGO) Skateistan ist. Henninger, der 2006 Darmstadt verließ, arbeitete in Afghanistan zunächst als Entwicklungshelfer, bevor er sich ganz der Arbeit für Skateistan widmete. Percovich, Henninger und afghanische Freunde skateten damals durch Kabuls staubige Straßen und fanden in leeren Brunnen neue Skate-Spots. Bald fiel dem Team auf, dass vor allem die Kinder Kabuls großes Interesse an diesem „neuen Spiel“ zeigten. Die Idee, das Skateboard als Instrument zur Jugendarbeit einzusetzen, war geboren.

„Wir sind damals mit Motorrädern zum Brunnen gefahren, die Skateboards auf dem Gepäckträger. Die Kids kamen uns entgegengerannt, waren froh und haben gelacht. Es war ein ganz schönes Chaos“, erinnert sich Henninger. Jungen wie Mädchen, Paschtunen, Tadschiken und alle anderen Volksgruppen waren gleichermaßen vertreten. Niemand wurde bevorzugt. Alle zehn Minuten wurden die Skateboards getauscht, damit niemand neidisch sein musste. Tricks und Skills wurden in gebrochenem Dari, auf Englisch und mit Händen und Füßen erklärt. Es funktionierte. Das Prinzip ist noch heute das gleiche – außer dass die Organisation um ein Vielfaches gewachsen ist: Nachdem das Jahr 2008 mit einem Gesamtbudget von nur 8.000 Dollar überstanden war, wurden 2009 die Medien auf das ungewöhnliche Projekt aufmerksam. Nach und nach stieg das weltweite Interesse an Skateistan. Die ersten Geld- und vor allem Sachspenden erreichten Kabul. Heute steht eine auf Initiative von Skateistan gebaute Skatehalle in Kabul, die zugleich die größte Sporthalle Afghanistans ist. Vier Regierungen, unter anderem auch die Deutsche, unterstützen die Organisation, die mittlerweile international aufgestellt ist.

Langfristig möchte Skateistan unabhängig von den klassischen Geldgebern werden und setzt dabei auf die Entwicklung einer eigenen sozialen Marke. Dazu werden beispielsweise weltweit T-Shirts mit Skateistan-Logo verkauft und Skatehelme und Schutzausrüstungen zusammen mit namhaften Herstellern auf den Markt gebracht. Außerdem produziert Skateistan einen Kinofilm, der im September weltweit veröffentlicht werden soll. Sämtliche Einnahmen fließen direkt nach Kabul und helfen dabei, die Aktivitäten vor Ort am Laufen zu halten. Die ersten skatenden afghanischen Kinder sind inzwischen so gut geworden, dass sie selbst Wissen weitergeben können – und das ist genau, worum es Henniger und Co. geht: Teamwork. Mit Workshops und Unterrichtsstunden, die vor oder nach den Skatesessions stattfinden, soll die Basis für ein friedliches Miteinander, Respekt und Vertrauen gelegt werden. Das Projekt wächst immer weiter. „Wir können uns vor neuen Schülern kaum retten“, lacht Henninger.

„Momentan arbeiten wir pro Woche mit 240 Kindern – auf der Warteliste stehen weitere 300.“ In einem Land wie Afghanistan ist es für eine friedliche Zukunft am wichtigsten, dass junge Menschen nicht länger bereit sind, Waffen aufeinander zu richten. Skateboarding bietet fern von der Ernsthaftigkeit des nackten Überlebens die große Chance, Spaß zu haben. Mit allen anderen und auf gleicher Ebene. Auf die Frage, ob Max Henninger sich in Afghanistan sicher fühlt, erzählt er nachdenklich: „Unser Projekt wurde oft belächelt, weil wir keinerlei Sicherheitsmaßnahmen getroffen haben.“ Er hat keine Guards, fährt kein gepanzertes Auto und hat keinen Stacheldraht vor der Tür. „Man muss nicht so viel Angst haben, aber Respekt vor der Situation. Wichtig ist, dass man sich auf die Menschen einlässt.“

 

Skateistan im Worldwideweb

www.skateistan.org