Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Wer hätte im vergangenen Jahr, als wir an dieser Stelle ein Zwischenfazit mit Trainer Dirk Schuster zogen, ernsthaft damit gerechnet, dass die Erfolgsstory des SV Darmstadt 1898 e. V. auch in der 2. Bundesliga nahezu nahtlos anhalten würde. Dass kein „Zwischentief“ die Mannschaft in die mittleren Sphären der 2. Liga katapultiert und der oft zitierte Abstiegskampf zu keinem Zeitpunkt ein Thema ist. Im Gegenteil: Wenige Spieltage vor Schluss hat sich der SV 98 auf Tabellenplatz 2 bis 4 eingenistet und ist damit ein Mitanwärter für den Aufstieg in die 1. Fußball-Bundesliga. Unglaublich – aus vielerlei Sicht und auf vielfache, meist ambivalente Weise.

Zunächst besticht die Mannschaft durch eine unglaubliche Geschlossenheit, setzt sehr diszipliniert Vorgaben, Werte und Anforderungen von Trainer Dirk Schuster um. Es scheint, alle seien auf „Autopilot Schuster“ programmiert: gegenseitiger Respekt, die Unterordnung jedes Einzelnen in das Gesamtgefüge, maximales Einsetzen für den anderen, eine Understatement-Haltung, die konsequent von allen beherzigt wird. Dazu der bei vielen Spielern wiedererlangte Glaube an die eigenen Stärken als Grundlage des anhaltenden Erfolges. Selbst ehemalige Stammspieler und Leistungsträger, die momentan nicht zur ersten Wahl des Trainers gehören, ordnen sich diesen Prinzipien offensichtlich unter, völlig untypisch im Fußball-Geschäft, in dem normalerweise jeder sich selbst der Nächste ist.

„Jeder bei uns hier im Team weiß, dass ausschließlich das Große und Ganze zählt und dass jeder davon am Ende auch profitieren wird – der eine früher, ein anderer später. Das ist unsere Philosophie und da stehen alle ausnahmslos dahinter. Jeder weiß, dass bei erfolgreichem Abschneiden jeder Einzelne ein Gewinner sein und davon profitieren wird, dass man sich da zwischenzeitlich auch mal zurücknehmen muss. Das erwarte ich von allen meinen Spielern.“ Ein ganzer Verein scheint vom Schuster‘schen System indoktriniert zu sein. Schert einmal einer aus, wird er sehr schnell vom „Großen und Ganzen“ wieder zur Raison gebracht.

Dass dieser Erfolg trotz der ebenfalls unglaublichen Trainingsbedingungen möglich ist, verwundert. Stehen bei anderen Zweit- und Erstligisten ganze Trainingszentren mit perfekten Plätzen unterschiedlicher Beläge zur Verfügung, gibt es dort kurze Wege zu Kraft- und Physiotherapieräumen, verschiedene Laufmöglichkeiten und Hallen zur Ausübung anderer Sporteinheiten, trainiert Schuster mit seinem Team auf einem „Geröllfeld mit vereinzelter Grashalmbesiedelung“, wie manch Beobachter es nennt. Mehrere Trainingseinheiten werden abgebrochen, weil der Platz unbespielbar ist. Man wich zuletzt (Stand April 2015) gar auf einen Trainingsplatz in einer umliegenden Gemeinde aus, um dort seine Trainingseinheiten adäquat ausüben zu können und nimmt damit zusätzliche Fahrten und Umstände in Kauf. Einzig und alleine, weil das Gelände am Böllenfalltor keinerlei Alternativen bietet.

Die Frage bleibt also, warum Verein und Stadt immer noch derart unprofessionelle Bedingungen bieten, hatte man doch seit dem Aufstieg in die damals bereits sehr professionelle 3. Liga im Jahr 2011 bis heute vier Jahre lang Zeit, Strukturen und Bedingungen peu à peu zu verbessern. So ist zum Beispiel noch immer eine Ausgliederung der Profiabteilung in eine eigene Gesellschaft, was vielfältige Vorteile und professionelle Strukturen in verschiedenen Bereichen mit sich bringen würde, nicht weiter vorangeschritten, wie Präsident Rüdiger Fritsch dem Darmstädter Echo gegenüber im April 2015 bestätigt hat.

„Geröllfeld mit vereinzelter Grashalmbesiedelung“ als Verletzungsprophylaxe?

Auch Dirk Schuster weiß: „Auf Dauer ist mit einer solchen Infrastruktur ein Verbleib in Liga 2 nicht machbar und an einen Aufstieg in die 1. Liga gar nicht zu denken. Da haben wirklich alle anderen Vereine andere Bedingungen und damit einen klaren Wettbewerbsvorteil. Der Verein versucht momentan alles, um die Trainingsbedingungen zu verbessern. So lange müssen wir noch durchhalten.“ [Anm. d. Red.: Wie der SV 98 kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe mitteilte, wird nun einer der Kunstrasenplätze an der Nieder-Ramstädter Straße in einen Naturrasenplatz umgewandelt. So sollen die Trainingsbedingungen für die Profis am Böllenfalltor verbessert werden. Die Bauarbeiten sollen noch diesen Sommer abgeschlossen sein.] Augenzwinkernd, jedoch mit einer gehörigen Portion Galgenhumor versehen, fügt Schuster hinzu: „Einen Vorteil hat es aber, denn ein Training unter den jetzigen Bedingungen ist echte Verletzungsprohylaxe, wer sich dort nicht verletzt, verletzt sich nirgends.“

Womit man bei einem weiteren „unglaublichen“ Phänomen des „Lilien“-Erfolgs wäre: Keine andere Mannschaft hat derart wenige schwere Verletzungen zu beklagen wie der SV 98. Kein Leistungsträger fällt über mehrere Wochen aus, um danach über Monate nicht mehr zu alter Form zu finden – was bei fast allen anderen Mannschaften im Profibereich regelmäßig vorkommt. Doch auch dies scheint weniger Glück und Zufall als systemimmanent zu sein: „Wir trainieren wirklich hart und, wie erwähnt, unter schweren Bedingungen. Auch Felix Magath, den ich unlängst kennengelernt habe, sagt, dass intensives Training die beste Verletzungsprohylaxe ist. Und unsere Spieler vertrauen sich uns auch zu 100 Prozent an, sagen rechtzeitig offen und ehrlich, wenn sie sich müde oder angeschlagen fühlen. Wir nehmen sie dann aus dem Betrieb raus, gehen keine unnötigen Risiken ein. Diese extreme Vertrauensbasis ist die Grundlage unseres geschlossenen Wir-Gefühls“, so Schuster.

Verein und Stadt unter Zugzwang

Nie zuvor hat eine Mannschaft mit ihrem Trainer durch einen so unglaublichen Erfolg in derart kurzer Zeit einen Verein und die Stadt so unter Zugzwang gesetzt wie die „Lilien“ derzeit. Der dringend benötigte Bau des neuen Stadions, das zusätzliche Vermarktungsmöglichkeiten und eine erweiterte Zuschauerkapazität bringen soll, verzögert sich immer weiter. Momentan ist mit einer Fertigstellung nicht vor der Saison 2017/2018 zu rechnen. Gleichzeitig wird der laufende Trainings- und Arbeitsbetrieb im und am „Merck-Stadion am Böllenfalltor“ deutlich beeinträchtigt werden: Bekanntlich wird das bestehende alte traditionsreiche Stadion umgebaut, Spiel- und Baubetrieb werden somit gleichzeitig stattfinden, was pro Heimspiel 20 bis 25 Prozent der Zuschauerkapazität kosten und damit ein weiteres Loch in den ohnehin nicht gerade üppig ausgestatteten Etat reißt. Ein klarer wirtschaftlicher Nachteil gegenüber Mitkonkurrenten in Liga 2 – von Liga 1 ganz zu schweigen. Zustände, die den sportlichen Erfolg des Teams nahezu torpedieren.

„Wir benötigen diese wirtschaftliche Verbesserung, die ein neues Stadion mit sich bringt, dringend, um dauerhaft eine gute Rolle in Liga 2 spielen zu können. Wir wissen schon jetzt, dass wir auch im nächsten Jahr wieder auf unseren bestehenden Kader und – bei Neuzugängen – auf Spieler zurückgreifen müssen, die einen gewissen Makel haben beziehungsweise hatten. Wir werden nicht in der Lage sein, die großen individuellen Qualitätsspieler zu uns nach Darmstadt zu holen. Um in den nächsten Jahren weiter erfolgreich sein zu können, muss uns aber auch es irgendwann gelingen, solche sogenannten Unterschiedsspieler zu holen“, beschreibt Schuster seine Sicht der Dinge.

Wäre es unter diesen Umständen für den „Erfolgsmacher“ Schuster, egoistisch betrachtet, nicht besser, den SV 98 nach dieser Saison zu verlassen und seine Erfolgsstory in Darmstadt – ob von einem weiteren Aufstieg in Liga 1 gekrönt oder nicht – glanzvoll abzuschließen? Die Antwort auf diese Frage lieferte der 47-jährige gebürtige Chemnitzer Anfang April, als er seinen Vertrag (gemeinsam mit seinem gesamten Trainerteam und wie tags zuvor schon „Lilien“-Kapitän Aytac Sulu) bis 30. Juni 2018 verlängerte. Doch er gibt zu bedenken: „Ich weiß, dass ein zweites Jahr in Liga 2 weitaus unangenehmer und schwerer wird als dieses erste Jahr. Die Anfangseuphorie wäre verflogen, es ist dann nicht mehr das erste Spiel in/gegen Hamburg, Düsseldorf oder Kaiserlautern seit Jahrzehnten. Normalität würde einkehren, es wird darum gehen, die Klasse zu halten. Trotzdem werde ich das, was wir uns in den letzten Jahren hart erarbeitet haben, nicht einfach wegwerfen. Ich möchte mich auch an anderen Phasen – weniger erfolgreichen vielleicht – messen lassen und mich diesen Herausforderungen stellen. Die Geschichte hier in Darmstadt ist wie unser „Baby“, das wir groß gezogen haben und das uns mit allem und allen Personen extrem emotional verbindet. Das gibt man nicht einfach auf.“

Möglicherweise ein weiteres Puzzleteil: Vor Jahren schon wurde aus wirtschaftlichen Gründen auf eine separate sportliche Leitung verzichtet und der damalige Trainer Kosta Runjaic mit der Wahrnehmung beider Aufgaben als Trainer und sportlicher Leiter in Personalunion betraut. Daran hat sich auch unter Schuster nichts geändert. Und Schuster scheint dieses System wie auf den Leib geschneidert zu sein, hatte er doch auf seiner letzten Trainerstation bei den Stuttgarter Kickers kein unbelastetes Verhältnis zu seinem damaligen sportlichen Leiter Guido Buchwald, was unter anderem auch zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses dort führte. In Darmstadt ist er nun im sportlichen Bereich sein eigener Chef und kann seine Entscheidungen nahezu unangefochten selbst treffen.

Wann kommt die Scoutingabteilung?

„Es hat sich von Anfang an so ergeben, dass wir das weitergeführt haben, was mein Vorgänger Runjaic begonnen hatte. Im Team mit meinen Co-Trainern Sascha Franz und Dimo Wache, Tom Eilers [Verantwortlicher für Vertragsangelegenheiten, Anm. d. Red.] und unserem Präsidenten Rüdiger Fritsch haben wir eine hohe Vertrauensbasis, die Chemie zwischen uns stimmt und die Wege sind kurz. So können wir sehr effektiv und konstruktiv arbeiten. Das gefällt mir und so arbeite ich gerne. Ich würde mich aber auch gegen eine separate sportliche Leitung nicht wehren, irgendwann wird es diese Funktion genauso im Verein geben wie zum Beispiel auch eine Scoutingabteilung, an der man nicht mehr vorbeikommt“, sagt Schuster.

Weiterhin spannend bleibt es zu erfahren, was der „Sportchef“ Schuster mit dem Trainer Schuster macht, sollte der SV 98 doch irgendwann von einer „Durststrecke“ eingeholt werden. Oder was passiert, wenn – football business as usual – doch mal ein potenter Erstligist anklopfen und den Trainer aus seinem jüngst verlängerten (aber mit einer Ausstiegsklausel versehenen) Vertrag herauskaufen sollte? Bricht dann Puzzleteil für Puzzleteil auseinander oder ist der Verein stark genug, den Fußball-Olymp 2. oder gar 1. Bundesliga weiter zu ermöglichen? Wird es sich dann rächen, dass man in den vergangenen Jahren die Schaffung professioneller Strukturen mehr oder weniger vernachlässigt hat? Wird es dann problematisch, sich dem Schuster’schen System derart untergeordnet zu haben? Spannende Fragen, die den unglaublichen Erfolg des Trainers und der Mannschaft zwar nicht schmälern, aber dennoch auch nachdenklich in die Zukunft des SV Darmstadt 98 blicken lassen.

 

Nur noch Endspiele

Sa, 02.05., 13 Uhr: SV Darmstadt 98 – 1. FC Kaiserslautern

Mo, 11.05., 20.15 Uhr: Karlsruher SC – SV Darmstadt 98

So, 17.05., 15.30 Uhr: SpVgg Greuther Fürth – SV Darmstadt 98

So, 24.05., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – FC St. Pauli

Do, 28.05., und Mo, 01.06., jeweils 20.30 Uhr (tbc): Relegation (erst auswärts, dann zuhause)

www.sv98.de