Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Noch vor kurzem sah man sie früh morgens bei jedem Wetter joggen, sie saßen im Drive-In-Fastfood-Restaurant und tranken die Coke in Maxi-Size. In der dunklen Vorweihnachtszeit, in der man sie nicht mehr so oft sah, zogen Kitsch-Pilger zu ihnen, um sich die unglaublichsten Weihnachts-Lichtdekorationen genauer anzuschauen. Und plötzlich waren sie von heute auf morgen, ganz unmerklich, verschwunden: die 10.000 US-Soldaten der Cambrai-Fritsch-Kaserne, der Jefferson-, der Lincoln-Siedlung sowie der Kelly-Barracks.

Die Existenz der amerikanischen Streitkräfte in Darmstadt glich einer Parallelwelt, mit der man allenfalls noch zum Heinerfest im Hamelzelt in Berührung treten konnte. Nach nunmehr sechseinhalb Jahrzehnten sind sie abgezogen – und städtebaulich hat sich dadurch in Darmstadt eine vielversprechende Chance aufgetan: Mitten in der Stadt, die derzeit rund 140.000 Einwohner zählt, ist eine Nutzfläche der Größe Wixhausens frei geworden.

Das Gebiet zwischen Bessungen und Eberstadt am Fuße der Ludwigshöhe und in Nähe der Kiesgrube stellt eine einmalige Chance für eine städtebauliche Neuerschließung inmitten von Darmstadt dar. Der Konversionsprozess, also die Umnutzung militärischer in zivile Flächen, kann nun beginnen. Die Stadt Darmstadt hat sich hierbei fest vorgenommen, ihre Bürger einzubinden.

Anfang September 2009 startete die Öffentlichkeitsbeteiligung an der Konversion mit einer Busrundfahrt durch das freigewordenen Gelände, 900 Bürger und Bürgerinnen waren dabei. Eine Buskolonne schob sich bei strömendem Regen durch die menschenleeren Kasernen, vorbei an Hunderten von Wohneinheiten, die in mehrstöckigen Wohnblöcken angesiedelt sind, vorbei an PX-Kaufhäusern, Baseballplätzen, Schulen, Kindergärten, Post Office, ehemaligen Pferdeställen, einer Bowlingbahn, Kapellen, Sporthallen und Picknick-Areas: alles leblos und verlassen.

Die sich präsentierenden Bilder machen nochmals deutlich, dass Darmstädter und US-Soldaten jahrelang nebeneinander her gelebt haben, ohne dass es Berührungspunkte gab. Das Bild der bunten Busse voller Menschen, wie sie sich ihren Weg durch das umzäunte Gelände bahnen, erinnerte an den Fall der Berliner Mauer, an das trostlose und vernachlässigte Ostberlin, dass sich dem „Wessi“ beim Erstbesuch präsentierte. Damals wie heute, hier in den Housing Areas der Jefferson Village, waren zahlreiche Ecken architektonische Zeichen des Verfalls. Die Besucher wurden Zeuge, wie sich die Natur schon nach kürzester Zeit das Areal zurückzuholen versucht, Disteln aus dem Asphalt wachsen, das Unkraut die Häuser zuwuchert.

Die urbane Safari deckte jedoch auch kleine menschliche Geschichten auf, die von einer Zeit zeugen, bevor ab 1938 (von den Nazis) die Kasernen gebaut und ihre Mannschaftsgebäude nach Schlachtorten des Ersten Weltkrieges benannt wurden: Ein Gedenkstein erinnert an einen tödlich verunglückten Schlittenfahrer (der Grüngürtel unterhalb der Ludwigshöhe war einst eine beliebte, nicht ungefährliche Rodelbahn). Und inmitten der Lincoln-Siedlung steht ein kleines Wohnhaus, welches von Deutschen bewohnt ist und auch während der Anwesenheit der Amerikaner inmitten des Geländes weiter existieren konnte. Es handelt sich um einen einmaligen Fall in Europa, dass sich einheimische Bewohner – wie Kleinbonum in den Asterix- und Obelix-Comics – gegen die Besatzungsmacht durchsetzen und auf ihrem Grund und Boden inmitten des US-Stützpunktes wohnen bleiben konnten.

Beeindruckend: In den Kelly-Barracks an der Eschollbrücker Straße befindet sich eine alte Panzerwaschanlage. Dort baden regelmäßig die Kröten des Westwaldes – und wurden von den US-Soldaten in den Wald zurückgebracht, wie beim Rundgang erzählt wird. Zum Schutze der Kröten wird dies seit Abzug der Soldaten interimsmäßig von städtischen Angestellten erledigt. Der Rundgang macht bewusst: Die ehemaligen US-Kasernen stellen ein bemerkenswertes Potenzial für eine Mischung aus Wohngebiet, Natur, Villenviertel, Freizeitareal (mit Proberäumen für Darmstädter Bands?!) und Gewerbegebiet dar.

Damit dort in wenigen Jahren wieder zahlreiche persönliche und für Darmstadt wichtige städtebauliche Entwicklungen stattfinden können, ist Ideenreichtum gefragt: Das Gebiet ist im Besitz des Bundesamtes für Immobilienaufgaben, die Stadt Darmstadt hat die Planungshoheit für die ehemaligen Kasernen und entwickelt nun das Konzept der Umnutzung, vornehmlich für den Wohnungsbau. Bürgerwerkstätten sollen den städtebaulichen Wettbewerb für die Cambrai-Fritsch-Kaserne und die Jefferson-Siedlung begleiten. Auch wichtige Gruppen und Institutionen sollen in die Entscheidungsfindung integriert werden.

Sobald ein in Auftrag gegebenes Gutachten über die Verkehrserschließung vorliegt, kann der städtebauliche Wettbewerb starten. Doch bis die Konversion endgültig abgeschlossen ist, werden noch Jahre vergehen. Eine Sache sollte aber schon vorab herausparzelliert und genutzt werden können: Der fast noch nagelneue Skaterpark in der Lincoln Village könnte schon bald den Darmstädter Skatern zur Verfügung stehen.