Foto: Jan Nouki Ehlers
Foto: Alexander Heinigk

Lebenskultur findet in Darmstadt nicht nur im öffentlichen Raum statt, sie setzt sich auch hinter sämtlichen Haus- und Wohnungstüren der Stadt fort. Wie sich unser „gewohntes Leben“ gestaltet, wie wir uns einrichten und zwischen dem persönlichen Mobiliar organisieren, dient heute zunehmend auch der Darstellung des eigenen individuellen Stils. Die Marktforschung kategorisiert die Gesellschaft daher nach erschreckend gleichförmigen Kasten des Lebensstils und entlarvt den potenziellen Käufer eines bestimmten Neuwagens anhand seiner Wohnzimmercouch.

Die größte Kaste, die das Gros moderner Wohnkultur widerspiegelt, ist der gelb-blaue Kasten auf der grünen Wiese namens Ikea. Flaniert man dagegen durch die Abteilungen eines Weiterstädter Möbel-Riesens, kann man vom Schlafzimmer in Lacklederoptik bis hin zur Biedermeierkopie in Pressspan alle denkbaren Styles & Sofas finden. Hinter Darmstadts Schlüssellöchern stehen diese zu Tausenden. Es gibt aber auch vieles, das sich diesseits oder jenseits schwedischer Wohnkultur bewegt, wir nennen es diesmal: besonders „Extremwohnen“.

Extrem wohltuende Leere herrscht bei einer jungen dreiköpfigen Familie aus Bessungen: Ihre geräumige Wohnung wird lediglich durch einige auserwählte Möbelstücke und das Licht geprägt. Liebevolle Details wie ein kleines Stück Rasen vor einer Stahlstütze im Esszimmer können somit zur Geltung kommen. Der Raum beherrscht die Dinge. Das Prinzip, die Einrichtung auf das Wesentliche zu reduzieren, herrschte schon vor 2.000 Jahren bei den Römern: Die Erbauer der ersten mehrstöckigen Mietshäuser achteten auf wertiges Mobiliar, aber stets wohldosiert.

Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe adaptierte im vergangenen Jahrhundert die alte Lehre mit seinem Spruch „Weniger ist mehr“. Van der Rohe wollte damit die Detailverliebtheit in der Architektur anprangern und sie aufs Wesentliche reduziert wissen.

Ist das Bessunger Beispiel am ehesten mit einem Museum für Moderne Kunst vergleichbar, so entspräche das andere Extrem, das hier vorgestellt wird, eher dem Kellerarchiv des Hessischen Landesmuseums, indem sich jedoch der Archivar selbst nur schwer zurechtfände. Und auch hier wären ein Anbau und eine Neustrukturierung vonnöten, um die Exponate wenn auch nicht den Besuchern, zumindest aber dem Kurator zugänglich zu machen.

In einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Woogsviertel wohnt ein gelernter Schreiner, der von seiner Sammelleidenschaft stark dominiert ist. Hier gilt das Motto: „Mehr ist eben doch mehr.“ Eine Freundin hat einst vorgeschlagen, der Flohmarkt-Fetischist solle seine Silhouette in die Tür sägen und könne so nur noch eintreten, wenn er nichts Zusätzliches in die Wohnung bringt. Sein Wohnraum ist ein lebendiges Archiv des Darmstädter Sperrmülls und der Flohmärkte der Stadt, nur archiviert ist es bislang nicht. Und leider hat sich in diesem Fall noch kein Mäzen gefunden, der auf der Mathildenhöhe eine Galerie der Alltagskultur stiftet.

Foto: Jan Nouki Ehlers
Foto: Alexander Heinigk

Mindestens 100 Umzugskartons beherbergen das Hab und Gut, bislang sind nur sechs davon thematisch sortiert und nummeriert. Der Rest stapelt sich heillos zwischen den vier Wänden und wartet auf Verwertung. „Ich habe vor, viele dieser Dinge zu restaurieren und umzubauen, aber da ich meine Maßstäbe sehr hoch ansetze, bleibt vieles eher liegen, als dass ich mich daran wage“, erzählt der auch als freischaffender Künstler und Musiker Tätige. „Am schlimmsten ist es, wenn der Heizungsableser kommt, dann muss ich erst mal eine Schneise zu den Heizungen schlagen und bin einige Zeit beschäftigt“, erzählt der Darmstädter, der seine Wohnung selbst „Messipotamen“ nennt.

Mindestens 2.000 Schallplatten (auf Anhieb gefunden auch ein Cover der Band Plemo mit einem großen „P“ darauf) (Foto), 15 Plattenspieler, zwei Dutzend Toffifee-Schachteln, eine Sammlung von Handpuppen der Muppet-Show, kilometerweise Kabel, alte Nintendo-Spiele, umgebaute Synthesizer und vieles mehr hortet der Extremsammler und weiß viele unterhaltsame Geschichten zu seinen gegenständlichen Mitbewohnern zu erzählen. Vorbild ist der Frankfurter Künstler Karsten Bott, der 1988 das Archiv für Gegenwarts-Geschichte gegründet hat und Alltag archiviert.

Ob nun die Dinge den Raum oder der Raum die Dinge beherrschen soll, bleibt jedem selbst überlassen. Ein Blick durch Darmstadts Schlüssellöcher ist jedoch nur dann besonders, wenn sich dahinter keine Katalog-Kopie befindet, sondern eine Lebensphilosophie.