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Foto: Antje Herden

Du denkst bei dem Wort „handarbeiten“ an Deine sockenstrickende Oma Luise oder an die furchtbaren Patchwork-Kissen von Tante Traudel? Du hast noch nichts von der weltweiten „Craft Mafia“ oder den „Craftin’ Outlaws“ gehört? Dann solltest Du weiterlesen, denn auch Du lebst in der D.I.Y. (Do-It-Yourself)-Generation.

Sozialkapitalisten und Handmade Movement sind auf dem Vormarsch

Der Philosoph John Locke konstatierte im 17. Jahrhundert: „Meine Arbeit, die sie (die Objekte) dem gemeinen (natürlichen) Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat, hat mein Eigentum an ihnen bestimmt.“ In unserer modernen Konsumgesellschaft definieren sich Menschen meist über ihren persönlichen Besitz. Doch die Dinge, die sie besitzen, haben sie gekauft. Hergestellt hat sie ein anderer. Denn Kapitalismus produziert massenhaft Güter, indem er das Kapital von der Arbeitskraft trennt. Heißt das nun nach Locke: Wer fertige Produkte kauft, besitzt dennoch nichts? Vielleicht geht diese philosophische Überlegung einen Schritt zu weit, aber das bittere Gefühl, das einem beim Betrachten endloser Warenauslagen die Kehle hochsteigt, kennt jeder von uns.

Be a social capitalist!

Nach den unterschiedlichsten „Booms und Bangs“ der letzten beiden Jahrzehnte leben wir nun in einer Zeit, da andere Dinge als materielles Eigentum Wert haben. Dafür einzig den allgemeinen Geldmangel heranziehen zu wollen wäre einseitig. Nach den oberflächlichen, geldverliebten 80er Jahren, nach dem unreflektierten Aufbau einer virtuellen Welt in den 90ern, nach Terroraktionen und Kriegen, jetzt, da sich die Natur auflehnt und das Klima wandelt, rückt man zusammen und wird zum „Sozialkapitalisten“. Zu erwirtschaften gilt nun ein Kapital, das ungleich dem Geld, dem Gesetz unterliegt: „use it or loose it.“ Allein durch Networking mit seinen Mitmenschen kann das gelingen: Leute treffen, Partys schmeißen, Essen teilen, Geschenke machen, Telefonanrufe und Mails beantworten. Entwickle Deine Talente, teile Deine Fähigkeiten und Deine Zeit, hilf Deinen Freunden, lehre andere, was Du selber kannst. Sei aktiv und engagiert, denke politisch und bleibe nicht stumm. Der Preis ist die Demokratisierung Deiner Umwelt und Dein persönliches Ergebnis: soziales Kapital.

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Foto: Antje Herden

Be a crafter!

Die 90er hatten durch die technologischen Entwicklungen ein virtuelles globales Dorf mit nahezu kultureller Gleichheit entstehen lassen: Alle (in der westlich geprägten Welt) hörten die selbe Musik, saßen in den gleichen Klamotten auf ähnlichen Stühlen herum, kauften ihren Freunden die gleichen Geschenke, besuchten die selben Kunstausstellungen und sahen die selben Filme. Die Allgegenwart von Massenprodukten und digitaler Technologie in einer hyperschnellen Gesellschaft ließen dem gemeinen Konsumenten kaum eine Wahl und führte zu einem (äußeren) Verlust der Individualität. Bis Künstler und Designer begannen, dagegen zu rebellieren. Sie hatten desillusioniert die Hochschulen verlassen, fanden plötzlich Trost im Produzieren von nützlichen Alltagsgegenständen – und nannten sich „Crafter“.

Seitdem fegt die „craft revolution“ durch die Welt – auch durch Darmstadt („Suche und finde“ im P, Ausgabe 17, die umhäkelten Bäume und Laternen). Der gemeine Crafter ist tätowiert und gepierct und lässt die Nähmaschine zu Punkrocktönen rattern. Die Produkte befriedigen seinen Eigenbedarf, werden verschenkt oder in kleinen Läden, auf Craft Fairs (nicht zu verwechseln mit Kunsthandwerksmärkten) und Internet-Marktplätzen wie Etsy.com oder Dawanda.com feil geboten.

Nach dem Motto „craft is to care“ sind alle Produkte handgemacht, möglichst recycelt und nachhaltig. Der Crafter arbeitet in einem persönlichen Maßstab, agiert lokal und behält den Produktionsprozess in seiner Hand. Die Prozesse sind alte Handwerksarbeiten wie Stricken, Häkeln, Nähen, Siebdruck oder Buchbinden – taktile Tätigkeiten, die eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt aufbauen, die dem Crafter vielleicht noch von den Eltern oder Großeltern beigebracht wurden. In seiner Welt darf der Crafter Dinge vermasseln, er darf fehlen, Objekte können scheinbar misslingen, um dann zu Kunst erklärt zu werden. Das einzig Wichtige ist: Create! Weil das Erschaffen ein menschliches Bedürfnis ist. Ebenso wie Kommunikation. Seit Ende der 90er Jahre hat sich ein riesiges globales Netzwerk der Crafter gebildet: über virtuelle und reale Marktplätze, in Blogs, Chats und Foren. Dort findet man auch die „Craft Mafia“. Schau mal nach!