Foto: Jan Nouki Ehlers
Der Waldportpark vom SKV Rot-Weiß DarmstadtFoto: Jan Ehlers

Bei den ersten Sonnenstrahlen im April radele ich mit dem Fahrrad über den Haardtring, lasse das baufällige, von Pflanzen verwilderte Südbahnhof-Gebäude hinter mir und erreiche die Heimstättensiedlung. Ich werde von einem sympathischen „Guude“ in roter Schrift auf dem Ortsschild begrüßt. Ich lenke mein Fahrrad durch die verkehrsberuhigten Straßen der Siedlung. Die Vorgärten der beschaulichen Reihen- und Einfamilienhäuser werden von den Anwohnern mit aller Fürsorge gepflegt: Der Rasenmäher brummt, Unkraut wird gejätet, der matte Gartenzaun wird mit frischer Farbe bepinselt und der Gartenzwerg auf seinen Platz gerückt, um der Frühlingssonne noch fröhlicher entgegen zu grinsen. Nicht ganz überraschend also, dass die Heimstättensiedlung von vielen Darmstädtern (mit oder ohne Augenzwinkern) „als ein spießiges Dorf in der Stadt“ bezeichnet wird – oder, politisch korrekter, als „angenehm ruhiges Familienviertel“.

Doch gerade in Sachen Familienfreundlichkeit kann die Siedlung überzeugen: Kindergärten, Spielplätze und eine Grundschule liegen in direkter Nähe zum Wohnort. Naturliebhaber sind mit wenigen Schritten im Wald, wo sie joggen, walken oder ihren Familienhund ausführen können – und dank der beiden Vereine SKV Rot-Weiß Darmstadt und SG Eiche gibt es genügend Sport-Angebote. Eltern müssen sich keine Sorgen machen, dass ihr Kind auf dem abendlichen Nachhauseweg von kriminellen Jugendlichen überfallen wird, denn in „der Siedlung“ geht es friedlich zu.

Spießig oder angenehm ruhig?

Und warum sollte man sich überhaupt den großstädtischen Lärm direkt vor seine Haustüre holen? Der Heimstättensiedler ist mit wenigen Schritten ins benachbarte, lebhaftere Bessungen gelaufen – oder er nimmt den H-Bus und ist wenige Minuten später in der Innenstadt.

Ich gönne mir eine Kaffeepause in „Uschis Lädchen“ im Heimstättenweg 83. Hier im wohl letzten Tante-Emma-Laden Darmstadts kaufen „die Siedler“ Gemüse, Brot, Eier, Zeitungen und Zigaretten. Das benachbarte „Blumenlädchen“ funktioniert Inhaberin Uschi Köthen im Sommer zur Eisdiele um. Der übermächtigen Konkurrenz – in der Heimstättensiedlung befinden sich vier Supermärkte – hält sie stand. Denn „Uschis Lädchen“ ist nicht nur Einkaufsmöglichkeit, sondern auch vertrauter Treffpunkt. Gerade eben, morgens um halb 8, trinken die Jungs von der Müllabfuhr, lässig angelehnt an die Stehtische, ihren ersten schwarzen Kaffee. Für mich geht’s weiter.

Der Route des H-Busses folgend biege ich in die Fünfkirchner Straße ein, in der ich das Restaurant „Stadt Budapest“ entdecke. Ungarische Gerichte wie Marhapörkölt, Zarma oder Bograczgulyas stehen auf der Karte. Ich erinnere mich am Ortseingang gelesen zu haben, dass das ungarische Dorf Gyönk mit der Heimstättensiedlung verschwistert ist. Der dörfliche Charakter der Heimstättensiedlung entstammt auch der Geschichte ihrer ungarndeutschen Siedler. Sie waren maßgeblich am Wiederaufbau des Stadtteils kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligt und fanden hier ihre Heimstätte, sprich ihre „neue Heimat“.

Zunächst waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts ganze Dörfer aus Hessen und Baden-Württemberg nach Ungarn ausgewandert, um dort freigewordenes Land zu besiedeln. Über zwei Jahrhunderte hinweg fühlten sich die deutschen Emigranten dort wohl, auch wenn sie weder Teil der ungarischen Gesellschaft wurden, noch anfingen die Landessprache zu sprechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten sie – aus Angst vor den Russen – in ihre alte Heimat Deutschland. Peter (87) und Barbara (85) Hildebrandt sind einige der wenigen noch lebenden Ur-Siedler. Mit Anfang Zwanzig wurden sie in Viehwaggons aus Ungarn nach Deutschland gebracht. Mit Menschen, die ihr Schicksal teilten, siedelten sie sich im Südwesten Darmstadts an.

Ungarndeutsche Siedlergemeinschaften

„Zu Beginn lebten wir zusammengepfercht in Wellblech-Baracken, da noch keine Häuser aufgebaut waren. Die Männer arbeiteten tagsüber als Handwerker. Nur am Feierabend und Wochenende blieb Zeit, um unsere Häuser zu errichten“, erzählt Barbara Hildebrandt. Etwa 2.000 Arbeitsstunden brachte jeder Mann zusätzlich zu seiner gewöhnlichen Beschäftigung auf, um sein Eigenheim zu errichten. Da der eine gut mauern, der andere gut zimmern, wieder ein anderer gut Dach decken konnte, schlossen sich die Flüchtlinge in Siedlergemeinschaften zusammen, um die Häuser gemeinsam aufzubauen. Erst nach der Fertigstellung der Häuser wurden sie verlost. So wurde verhindert, dass sich jemand bei seinem eigenen Haus mehr ins Zeug hätte legen können als bei anderen Gebäuden.

Trotz der widrigen Umstände erinnert sich Barbara Hildebrandt gerne an die damalige Zeit: „Da wir alle nichts hatten, waren wir alle gleich. Dieses Gemeinschaftsgefühl war schön und hat uns über Jahre hinweg zusammengeschweißt.“ Sie weiß, dass sie jeden einzelnen Stein ihres Wohnhauses selbst in der Hand hielt. „Diese innige Verbindung zum Wohnort können viele heute nicht.” Ich verlasse die Fünfkirchner Straße, fahre über die Klausenburger Straße hinein in den Westwald und erreiche den Waldsportpark, das Gelände des SKV Rot-Weiß Darmstadt. 1954 wurde dieser Verein gegründet –von Ungarndeutschen. Heute ist er der ganze Stolz der Siedlung. 1.400 Mitglieder zählt der SKV Rot-Weiß, die Fußball-Mannschaft spielt in der Hessenliga, nur eine Klasse unter den großen „Lilien“ vom SV Darmstadt 98.  Das Trainingsgelände umfasst neben Rasenplätzen ein 440.000 Euro teures, modernes Kunstrasenfeld.

Swinger’s Paradise und „Porno-Bäcker“

Die Kirchenuhr schlägt sechs Mal. Pünktlich zum Einbruch der Dämmerung werden in der Heimstättensiedlung die Rollläden heruntergelassen und die Bürgersteige hochgeklappt. Auf dem Heimweg stoße ich auf „Joe Kreutzer’s – die frivole Kneipe für tolerante Menschen“. Ein Swingerclub in Darmstadts womöglich kleinbürgerlichstem Viertel? Man glaubt es kaum, doch es ist wahr. Autos mit auswärtigen Kennzeichen parken abends vor der ungewöhnlichen Lokalität. Das Angebot reicht von „Montags-Gangbang“ über „FKK-Abend“ bis hin zur „Ladies Night“. Apropos Erotik … da war doch noch was?! Erinnere ich mich an die Kult-Geschichte vom „Porno-Bäcker Kliefken“.

Vor etwa zehn Jahren, als ein Geburtstagskind seinen Schulkameraden Kreppel mitbrachte, stießen die Kindermäuler nicht auf leckere Erdbeermarmelade, sondern auf Kondome. Denn Erotik-Bäckermeister Kliefken, der dafür bekannt war, gebackene Penisse aus Teig anzubieten, hatte diese Sonderbestellung aus Versehen an eine Mutter verkauft. Diese zeigte den Bäcker an und da er „nicht zum Verzehr geeignete Lebensmittel in den Verkehr gebracht“ hatte, bekam er eine Strafe in Höhe von 18.000 D-Mark aufgebrummt. RTL und „Bild“ berichteten. Man sieht: Bisweilen kann es ziemlich aufregend in „der Siedlung“ zugehen.

www.siedlungsnet.de

Foto: Jan Nouki Ehlers
Uschis LädchenFoto: Jan Ehlers