Illustration: André Liegl
Illustration: André Liegl

Der Datterich. Mundart-Stück, Lokalposse, Biedermeier-Schwank: Für viele klingt schon im Titel die Provinzialität dieses Theaterklassikers von Ernst Elias Niebergall mit. War „Der Datterich“ nicht dieses grüne Buch, das die Darmstädter Schüler unfreiwilligerweise von der Stadt zu ihrem Abitur überreicht bekamen und anschließend auf den heimischen Dachböden verschwinden ließen? Der in Form von schattenriss-schwangeren Theater-Aufführungen ritualisierte nostalgische Erinnerungsreigen des älteren und ältesten Darmstädter Bürgertums? Ein Sammelsurium an grotesken dialektalen Redewendungen und Sprichwörtern? Voller Altherren-Witze und schenkelklopfigem Humor? Ein paradigmatischer Fall hiesiger Beschränktheit?

In der Tat konnten die Darmstädter in den letzten Jahren sehenden Auges miterleben, wie ihre Lokal-Ikone, der Datterich, alterte und Staub ansetzte. Es ist wahr, dass die jüngeren Generationen immer weniger mit dieser eigenartigen lokalen Theater-Tradition anfangen können und diese mittelfristig auszusterben droht. Wer die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Stücks allerdings genauer unter die Lupe nimmt, gelangt auf verwilderte Fährten, die es wert sind, heute aufs Neue freigelegt zu werden: Im Grunde handelt es sich bei dieser Art von Theater um eine subversive und durchaus politische Kunstform, Sprachrohr und Ausdrucksmittel der einfachen Leute, geschrieben in ihrem Dialekt, dem herrschaftsfreien und elitenfernen Raum der Mundart: Willkommen im Volkstheater!

„Der Datterich“ ist ein Stück aus der Gosse. Uraufgeführt wurde es 1862 auf einer Holzbudenbühne im Freien – noch dazu in Bessungen, was damals vor den Toren der Residenzstadt lag. Am Darmstädter Hoftheater (dem heutigen Staatsarchiv) wurde es erst 1915 gespielt. Bevor das Stück schließlich salonfähig wird, vergeht also eine lange Zwischenzeit, in der „Der Datterich“ wahrscheinlich im Stehgreif aufgeführt wurde, in Kneipen und Brettertheatern, auf Jahrmärkten und der Straße. Sowohl der Autor Ernst Elias Niebergall, als auch der Uraufführungsdarsteller Louis Noetel waren junge (!) Künstler, gerade einmal Mitte zwanzig. Man darf davon ausgehen, dass die Aufführungen der folgenden Jahrzehnte ähnlich besetzt waren: mit Laiendarstellern, die das Stück aus der Hüfte spielen, in spontaner, temporeicher und scharfzüngiger Manier.

Spießer-Parodie und Volkstheater

Mit dem „Datterich“ hält Niebergall dem Darmstädter Handwerker- und Bürgertum seiner Zeit einen chirurgischen, sezierartigen Spiegel vor. Neben der offensichtlichen Parodie auf den selbstgenügsam-gemütlichen Spießer Dummbach setzt Niebergall zur Benennung seiner Figuren vor allem Handwerksberufe ein: Steifschächter, Bengler, Schmitt. Die Frauen sind noch nicht emanzipiert, bilden für das Stück nicht viel mehr als eine Folie, hören also auf gewöhnliche Vornamen (Evchen, Marie, Lisettsche). Sie alle sind Zeitgenossen des Biedermeier, einer Epoche der braven Konsolidierung altehrwürdiger vorrevolutionärer Werte. Im Mittelpunkt des Genres Lokalposse stehen in der Regel die jugendlich-leichtsinnigen moralischen Verfehlungen beziehungsweise deren Läuterung und der daraus resultierende soziale Aufstieg eines jungen Helden. Entsprechender alleinglückseligmachender Zielpunkt des Drehergesellen Schmitt: die Annahme als „Mahster“ (Handwerksmeister) und die Heirat mit Marie Dummbach.

Doch Niebergall macht einen anderen zu seinem Protagonisten. Die Namen des Datterich und seiner Spießgesellen sprechen von Attributen: Datterich kommt vom Tatterich kommt vom Alkoholismus. Allerdings hat diese durch die sozialen Raster gefallene Figur viel mehr zu bieten als die Themen Verschuldung oder Alkoholismus. Der Datterich entstammt der Tradition des Volkstheaters: Seine Verwandten und Vorfahren sind etwa der hellsichtige und wahr sprechende Narr des elisabethanischen Dramas, der kauzig und unverschämt alle Normen brechende Harlekin der Commedia dell’Arte, der derbe und sich naiv stellende Hanswurst des Kasperletheaters. Er führt die anderen Figuren ironisch vor, ist ihnen intellektuell überlegen, wenn auch nicht bis zum Grad echter Reflexion (wie sein stümperhafter Gebrauch von Schiller-Zitaten beweist). Vielmehr gibt er durch seine Existenz ein Beispiel, das die Ränder der bürgerlichen Gesellschaft markiert – ein Beispiel dafür, wie man auch sonst noch leben kann: als Homo Ludens, mit den geltenden Normen und Standards spielend. Wer das Stück (insbesondere den berühmten Monolog „Aurora musis amica, des haaßt uf Deitsch: Morjends schläft mer am Beste“) laut liest, weiß, dass es mindestens so sehr von der lebenspraktischen Verweigerung des Leistungsdenkens und der Erwerbsarbeit zehrt wie von den rhythmisch scharf gesetzten Pointen einer gut gebauten klipp-klappernden Komödie.

Illustration: André Liegl
Illustration: André Liegl

De Datterisch is n Punk!

Möglicherweise handelt es sich bei diesem Text um einen Generationenkonflikt zwischen Alt und Jung, zwischen affirmativem und subversivem Gedankengut, zwischen einer von Stumpfsinn und Untertanengeist geprägten Mehrheitsgesellschaft und ihren Randfiguren: Möglicherweise ist der Datterich eher ein Bohemien des Vormärz als der Kalauer-König des Biedermeier; ist er gleichzeitig Schnorrer, Trinker und eine „kleine Sonne“, wie Ernst Bloch ihn bezeichnet. Gewiss aber gehört die (Selbst-) Ironie des Stücks eher zur gewachsenen Identität Darmstadts als der untergegangene Glanz des Großherzogtums.

Solche Lesarten des Stücks heben es weit über den lokalen und historischen Kontext hinaus. Und tatsächlich wurde es zur Blütezeit seiner Rezeption – in den 1920er Jahren – als ein spannender Teil des deutschsprachigen Volkstheater-Erbes betrachtet und in Berlin, Hamburg, Köln aufgeführt (und zwar meistens auf Heinerdeutsch!). Spätestens hier liegt der wegweisende Scheidepunkt der Rezeptionsgeschichte: So lässt sich etwa an damaligen Leserbriefen an die überregionalen Kritiker ablesen, dass sich die Darmstädter mit ihrer Mundart ausgestellt und ausgelacht fühlten. Längst hatten sie ihre Mundart-Tradition selbst in die Hand genommen und mit der Hessischen Spielgemeinschaft 1925 eine „wirkmächtige Institution“ gegründet. Die Verwüstungen Darmstadts während des Zweiten Weltkriegs und der politische Bedeutungsverlust in der Nachkriegszeit ließen das Stück schließlich wie ein Überbleibsel eines älteren lokalen Schicksals erscheinen: Musealisierung und Nostalgie, das Abschleifen des subversiv-kritischen Potentials waren nur noch eine Frage der Zeit.

Zeit also, den Datterich neu zu beleben und frische Perspektiven auf dieses vieldeutige Darmstädter Stück zu werfen! Anlässlich dreier im nächsten Kalenderjahr anstehender Jubiläen – dem 200. Geburtstags des Autors Ernst Elias Niebergall, dem 100. Jahrestags der Erstaufführung am Hoftheater und dem 90-jährigen Bestehen der Hessischen Spielgemeinschaft – kommen im P Stadtkulturmagazin in den nächsten Monaten verschiedene Autoren und ihre Blickwinkel auf Niebergall und den Datterich zum Ausdruck. Auf dass diese einzigartige Tradition eine kreative Fortschreibung erfahre. Oder? Eher wie net!

 

www.datterich-festival.de