Foto: Datterich Festival
Foto: Datterich Festival

Wenn man, wie der Autor dieser Zeilen, ein Zugereister ist, dann ist der Hype um den Datterich erst einmal schwer nachvollziehbar. Was soll denn bitteschön an einem Volkstheaterstück, das in südhessischer Mundart geschrieben ist und vor fast 200 Jahren spielt, so toll sein? Doch wenn man sich dann mal auf die Lokalposse eingelassen hat, dann versteht man langsam, was der Heiner an seinem Datterich findet: diesem bodenständigen Spitzbuben und Aufschneider, der sich mit Ironie und Augenzwinkern durchs Leben schnorrt und nebenbei die Spießbürger in den Wahnsinn treibt.

Um diesen Kerl hat sich in Darmstadt ein Kult entwickelt, der oft orthodoxe Züge hat. Aufführungen müssen original sein, das heißt Kostümierung, Bühnenbild und Text sollten so wenig wie möglich geändert werden. Es ist ein bizarrer Konservatismus, der dem Hauptprotagonisten des Stückes so gar nicht entspricht. Etwas Ähnliches werden sich die Kuratoren Gösta Gantner, Jonas Zipf und Silke Peters gedacht haben, als sie den Entschluss fassten, ein elftägiges Datterich Festival zu initiieren. Sie wollten den notorischen Schnorrer auch außerhalb des traditionellen Kennerkreises wieder ins Bewusstsein rufen, auch das für den Pleitier Datterich zentrale Thema Schulden sollte in vielfältiger Weise thematisiert werden. Nach dem Ende des Festivals stellt sich die Frage: Ist das gelungen – und was bleibt?

Ein erster Erfolg ist: Die Bekanntheit des „Datterich“ hat in Darmstadt sowie durch hessen- und bundesweite Berichterstattung enorm zugenommen. Jetzt weiß man: Die Stadt des sympathischen Bundesliga-Aufsteigers SV Darmstadt 98 verfügt also auch über eine passende literarische Figur. Eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit ist das eine, der eigentliche Anspruch der Veranstalter war jedoch ein „Fest für alle“ anzubieten und einen „kreativen Flächenbrand“ zu entfachen. Die Latte für das Festival war somit hoch gehängt worden.

Der inoffizielle Auftakt war perfekt: Mit der Eröffnung der Datterich-Klause am Hauptbahnhof erhält Darmstadt an einem seiner unwirtlichsten Plätze wieder einen lebendigen und liebevollen, wenn auch nur temporären Ort der Kultur und des Müßiggangs. Dort kann man in gemütlicher Atmosphäre zusammensitzen, trinken und grillen. Das wäre zweifellos ganz im Sinne des Lebemannes Datterich. Einziges Manko hierbei ist, dass die Location wie bereits bei den vorigen Nutzungen als „Cage & Cola“ und „Königreich Popo“ zu wenig in das Festival eingebunden war und weiterhin zu wenigen Menschen wirklich bekannt ist. Beispielsweise wäre es toll gewesen, an diesem Ort eine oder mehrere „Datterich“-Aufführungen zu sehen. So hätte man Niebergalls Stück aus den Theaterhäusern in die Stadt bringen können, so wie es von den Veranstaltern angedacht war – und stilecht wäre es zudem gewesen.

Ein weiteres Kuriosum war, dass der theatrale Start des Festivals nicht eine Neuinterpretation der Lokalposse, sondern Michael von zur Mühlens zwölfteilige Abhandlung „Schulden. Eine Befreiung!“ bildete. Diese Wahl als Auftakt wirkte etwas befremdlich und auch das Stück selbst hatte mit dem Datterich recht wenig gemein. Denn wo Niebergalls Stück locker, leicht, ironisch und kurzweilig die Biedermeier seiner Zeit entlarvt, da setzte „Schulden“ auf einen belehrenden Ton, theoretisierte, krakeelte und war in bester Regietheatermanier äußerst langatmig. Das Thema Schulden hätte es verdient gehabt, weniger elitär behandelt zu werden.

So mussten sich die Besucher bis zum dritten Festivaltag gedulden, um dem Datterich auf der Theaterbühne begegnen zu können. Dafür gab es mit der Aufführung der Hessischen Spielgemeinschaft unter der Regie von David Gieselmann aber eine zeitgemäße und ansprechende Interpretation zu sehen. Gespielt von Mathias Znidarec, der Datterich als den Hallodri darstellte, der er ist, in einem Bühnenbild, das sich die Goldene Krone zum Vorbild genommen hatte, und musikalisch begleitet von den Balkanklängen der Besidos. Das war eine unaufdringliche Modernisierung des Stückes aus dem 19. Jahrhundert, die auf subtile Weise die Ambivalenz der Hauptfigur aufzeigte: ein unangenehmer Schnorrer, der sich auf Kosten Anderer durchs Leben säuft, der aber ebenso auch die Biederkeit seiner Zeitgenossen aufzuzeigen vermag. Das größte Lob für den Regisseur und die Schauspieler waren sicherlich die Buh-Rufe so mancher selbsternannten Wahrer des echten Datterichs, die mehrheitlich männlich und im fortgeschrittenen Alter waren. Sie können sich den Datterich wohl nur als ein kalauerndes Volkstheater in Mundart vorstellen. Das wäre jedoch der langsame, aber sichere Tod des Stückes.

Gleichwohl wurden diese Fans vom Festival mit der Aufführung des Liebhaber-Ensembles um Helmut Markwort gut bedient. Denn deren Aufführung bot behäbiges Volkstheater, mit entsprechender Kostümierung und Bühnenbild. Das Große Haus des Staatstheaters war voll, das Publikum sprach die bekanntesten Zeilen mit und spendete Szenenapplaus. Doch das wohlige Beisammensein wurde jäh von einer Performance unterbrochen. Schauspieler und Gäste des „Schulden“-Happenings sprengten die Aufführung, riefen politische Parolen und demonstrierten für und vor allem gegen irgendetwas (vermutlich vor allem gegen Springer-Chef Mathias Döpfner, der den Bennelbächer spielte). Das arrivierte Publikum war not amused, die Schauspieler aber nahmen es gelassen. Die Folge war: Darmstadt hatte ein Kultur-Skandälchen und das Festival Öffentlichkeit. Eine größere Debatte über die Aktion und ihre Inhalte blieb leider aus. Das lag aber auch an den Störern, die sich mit den fünf Minuten Ruhm begnügten – sich später im Foyer aber immerhin mit dem durchaus angetanen Harald Schmidt austauschten.

Daneben bot das Festival ein wirklich abwechslungsreiches Programm: Inszenierungen und Installationen, eine Ausstellung rund um Niebergalls Leben, Lesungen aus seinem Werk, Vorträge zum Datterich oder zum Müßiggang und eine turbulent-anarchische Spielshow in der Centralstation näherten sich witzig Niebergalls Meisterwerk. Es gab aber auch Festivalteile wie ein Jazzkonzert oder eine Kostümparty zum Thema „Nerd & Biedermeier“, die ein wenig deplatziert wirkten.

Der Höhepunkt war die „Lange Nacht des Datterich“ am 13. Juni. Mit rund 60 Veranstaltungen an verschiedenen Orten in und um Darmstadt sollte das Stück in die Stadt getragen werden und die Heiner sollten ihren eigenen Datterich präsentieren können. Vom Skat-Turnier über Filmvorführungen, Konzerte, Lesungen, Vorträge, Theateraufführungen bis zu kostenlosen Fahrten im Datterich-Express reichte das vielfältige Programm. Leider verlief sich das Geschehen in der Stadt, die Spielstätten lagen teilweise weit auseinander, der Zeitpülan war straff und Veranstaltungen überschnitten sich oft, so dass weniger prominente Events kaum frequentiert waren. Doch ein Gutes hatte die Lange Nacht: Der Festival-Besucher konnte sie dazu nutzen, Datterichs Lieblingsbeschäftigung nachzugehen und ein, zwei Schoppe bei einer der Tankstationen genannten Trinkanstalten zu genießen. Und manch einer stolperte beim Spaziergang in eine „Datterich“-Aufführung, ohne das geplant zu haben.

Nach fast zwei Wochen Datterich-Festival fällt die Bilanz also gemischt aus: Es ist gelungen, Niebergalls Stück aus der verstaubten Volkstheater-Kiste zu holen und den Humor seines Anti-Helden zu verbreiten. Außerdem wurde den Darmstädtern an elf Tagen ein vielfältiges Kulturprogramm geboten. Gleichzeitig hatte man das Gefühl, dass die Veranstalter zu viel wollten: Der Datterich sollte Kapitalismus-Kritik üben, gleichzeitig literarischer Stoff, Projektionsfläche und Entertainer sein – für alle und alles.

Ein Anfang wurde gemacht, jetzt bleibt zu hoffen, dass das nächste Datterich-Festival nicht erst zum 300. Geburtstag von Niebergall im Jahr 2115 stattfindet.

www.datterich-festival.de und www.facebook.com/datterichfestival