Illustration: André Liegl
Illustration: André Liegl

In der Juni-Ausgabe dieses Stadtkulturmagazins haben die beiden Kuratoren des Datterich-Festivals, Gösta Gantner und Jonas Zipf, das Stück „Der Datterich“ vorgestellt und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Darmstädter Mundart-Posse gehalten. Überzeugungstäter halt. Sogar als Punk wollten sie uns die Hauptfigur des Stückes schmackhaft machen. Weil Punk in dieser Stadt noch was gilt. Aber was genau hat dieses Stück eigentlich mit Darmstadt zu tun?

Komisch. Da hat dieser Niebergall 1841 ein Stück geschrieben, das knapp zwanzig Jahre später uraufgeführt wird und erst weitere fünfzig Jahre danach auf „offiziellen“ Bühnen gespielt wird. Niebergall hat es natürlich nicht mehr erlebt. Der plötzliche Hype damals ist interessant, weil er just in die Großstadtwerdung Darmstadts fällt. Obgleich diese Entwicklung jäh durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde. Die Residenzstadt wird gerade erwachsen. Und skandalöser Weise haben sich andere Städte ab 1915 über das eigene kulturelle Erbe hergemacht: In Frankfurt wurde der Datterich schon gespielt – und in Berlin. Da will man in Darmstadt nicht hinten anstehen.

Der Datterich als Gründungstext des modernen Darmstadt?

„Der Datterich“ mutiert damit zu so etwas wie dem Gründungstext des modernen, großstädtischen Darmstadts – auch wenn Niebergall dies sicher nicht im Sinn hatte, als er ihn schrieb. Vielmehr zeichnet er sich als genialer Ethnograph der Stadtgesellschaft aus, der den Leuten „aufs Maul“ schaut. Zum Glück, muss man heute sagen, hat Niebergall diesen ironisch-humorigen Blick auf die Stadt Mitte des 19. Jahrhunderts gewagt und uns ein bemerkenswertes Stück hinterlassen, das sich jeder Schublade entzieht. Die Figur des Datterich ist ein selbstermächtigter Clown, kein Paria (Ausgestoßener) und kein Dorfdepp! Zum Dorfdepp wird man gemacht, Clown ist man aus freien Stücken. Na ja, oder weil die Umstände diese Rolle erfordern… Er ist also weder armselig (aber arm), noch ist er eine Randfigur. Er ist ein gefallener Verwaltungsbeamter (nach eigenem Bekunden, natürlich) – was sollte er auch sonst in Darmstadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts sein. Auffallend ist, dass ein ehemaliger Verwaltungsbeamter der Residenz als Vertreter der Mundart auftritt. Aber die Darmstädter sind offensichtlich lokalverbunden und sympathisieren mit dieser Abkehr vom Offiziellen mittels Mundart. Nun, außer seinen Saufkumpanen bleibt eine Seite der Residenz als elementarer Teil Darmstadts komplett unsichtbar: die Macht – als das unausgesprochene „Andere“ der dargestellten Spießbürgergesellschaft. Es ist wirklich spannend, dass dies im „Datterich“ gerade nicht dargestellt wird, zu einer Zeit, als Darmstadt noch politisches Zentrum, nämlich Landeshauptstadt war.

Illustration: Rocky Beach Studio
Illustration: Rocky Beach Studio

Mit Humor gegen die Macht

Diese Stadt ist eigentlich um die Macht herum gebaut. Kein großer Fluss, kein Aussichtspunkt, der die Gründung kennzeichnet, sondern eine Wegkreuzung. In der Mitte eine Residenz, drumherum Dorf, fertig. Diese Konstellation ändert sich gewaltig. Nicht während das Stück spielt, sondern während der Rezeption des Stückes: Die Einwohnerzahl wächst durch die Industrialisierung an, von 25.000 zu Niebergalls Zeiten auf fast 90.000 vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Niebergalls Ethnographie wird so zum Anker, zum Bezugstext in Zeiten dieses Wachstums und der Veränderung. Ach ja, die Macht. Damit hat Datterich so seine Probleme. Er ist wie ein Gallier im Römischen Reich – und einen Zaubertrank hat er auch: den Assmanshäuser Höllenberg. Er ist der sympathische Vertreter (wenn man nicht gerade für ihn die Zeche zahlen muss) der sich formierenden modernen Darmstädter Gesellschaft. Und die Macht ist das Andere, irgendwo außerhalb des Stücks. Dagegen sein, wenn es nach Macht riecht, ist uns auch heute in Darmstadt bekannt. Da fährt der sonst als so phlegmatisch geltende Darmstädter zur Hochform auf. Die Underdog-Rolle ist halt irgendwie attraktiv, so auch im Fußball – wie man jetzt in Bielefeld weiß.

Selbst wenn die Stärke des „Datterich“ darin besteht, Raum für Interpretation zu lassen, so kann Niebergall nicht ausreichend dafür gewürdigt werden, dass er der Stadt diesen Text geschenkt hat. Weil er Humor ins Zentrum der trotzigen Datterich’schen Rebellion stellt. So hat er es mir leicht gemacht, Darmstadt zu verstehen, obwohl mir meine Eltern diese Mundart nicht beibringen konnten. Aber die humorige Art Niebergalls kann Berge und Kulturgrenzen versetzen. Die gewollte oder ungewollte Anlehnung an die Commedia dell’Arte [italienische Volkskomödie des 16. Jahrhunderts, Anm. d. Red.] weist in diese Richtung. Meine andere Heimatstadt, Heraklion, kennt auch diese künstlerische Tradition. Mehr noch: Den berühmten Stadtfiguren, also den dortigen Datterichs (im Plural!), wurde der gesamte Kultursommer 2011 gewidmet. Sie sind lokale Heroen, die durch Witz und durch die entsprechende Selbstermächtigung der Stadtgesellschaft den Spiegel vorhalten. Es ist Zeit, auch in Darmstadt diesen Spiegel zu würdigen, der hier Datterich heißt. Oder? Eher wie net!

www.datterich-festival.de