Foto: Eric Verberdt
Foto: Eric Verberdt

Was ist eigentlich Neue Musik? Zunächst weder ein Schreib- noch ein Druckfehler. Der Szene, für die Darmstadt seit Jahrzehnten ein Zentrum ist, Gebühren tatsächlich zwei Großbuchstaben. Und was ist Musikmut? Diesen Sommer bietet sich uns in Darmstadt die Chance, beides herauszufinden.

Alle zwei Jahre treffen sich die Vordenker der Neuen Musik, um das Neueste der Neuen Musik zu zeigen und aufzuspüren. Dozenten, Komponisten und Instrumentalisten stecken in Seminaren die Köpfe zusammen und tauschen Ideen und Konzepte aus – im Dialog auf der Suche nach neuen musikalischen Wegen. Seitdem die Ferienkurse 1946 gegründet wurden, waren viele ganz Große zu Gast in Darmstadt: Philosophen und Musikkritiker wie Theodor W. Adorno in den Anfängen, später Komponisten wie Karlheinz Stockhausen oder Luigi Nono. Sie sprachen über die „ernste“ Musik, über das, was sich aus der Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, das neu ist und nicht Pop: Die vielen Strömungen, die sich unter dem Überbegriff „Neue Musik“ sammeln. Anders gesagt: Über das, was wir im Musikunterricht als Krach abgetan haben. Über das, was wir höchstens noch mit Zwölftonmusik und unverständlichen, unschönen Klängen verbinden. Dass man der Sache damit nicht gerecht wird, sei hiermit laut kundgetan!

Um Neue Musik zu verstehen, braucht es Musikmut. Vielerlei Werke der Neuen Musik werden für Ohren und Herzen der ahnungslosen (Pop-)Musikfans keinen Sinn ergeben und die Gänsehaut mag nicht vom Wohlgefallen herrühren. Wie sollte es auch anders sein, wenn man sich in gewohnter Erwartung Klangkünsten stellt, die anders ticken. Denn Neue Musik will oft gar nicht auf direktem Wege das Herz umschmeicheln, sie kennt die Finesse des Umwegs über den Kopf. Künstler wie der französische Komponist Gérard Grisey malen Ohrenbilder. Sein Werk „Les Espaces Acoustiques“ wird am Samstag, dem 17. Juli, im Eröffnungskonzert einer ganzen Konzertreihe, bei der die Darmstädter als Publikum an den Ferienkursen teilhaben haben können, vom hr-Sinfonieorchester aufgeführt. Grisey macht abstrakte Prozesse hörbar, seine Kompositionen setzen den Hörer auf einen Teppich aus Atem und Seufzern, Nachdenken und Gedankenknäuel. Dafür benutzt er traditionelle Instrumente. Andere Komponisten setzen Elektronik ein, wieder andere Geräusche, um den Kopf in Welten zu entführen, die der Verstand noch nicht kennt.

Die Gänsehaut des ahnungslosen Hörers entsteht durch das Brechen von Gesetzen der Gewohnheit. Selbst wenn man eine Weile suchen muss, um hierin Schönheit zu empfinden, Inspiration für alle Kunstschaffenden und Neugierigen bietet die Neue Musik grenzenlos. Für jeden Popkünstler und für jeden Fan lohnt sich dieser Panoramablick über den Tellerrand und wird sicher die ein oder andere Ideenbrise heranwehen.

Wie fruchtbar die Gedankenfusionen der Künstler aus ernster „Neuer Musik“ und Popmusik sein können, kann spätestens in den fabelhaften Rahmenveranstaltungen zu den Ferienkursen auf 603qm deutlich werden: Als Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Atelier Elektronik“ performt Christian Fennesz am Sonntag, dem 18. Juli, dort sein Werk „Black Sea“. Er breitet mit Gitarre und Elektronik einen langsamen, atmosphärischen Klangteppich aus, der einem die Luft nimmt und einen gleichzeitig fliegen lässt. Die Musik erinnert an Postrock, an Slow Core, an Experimental und birgt etwas Neues, das man noch nicht kennt … das neugierig macht.

Auf 603qm zeigt sich Neue Musik zu guter Letzt sogar tanzbar: Am Samstag, dem 24. Juli, wird „die Halle“ vom Hamburger Peter Kersten aka Lawrence beschallt, dessen Musik mit filigranen Melodien und minimalistischen Beats daherkommt. Er nennt Künstler der Avantgarde, einer Strömung der Neuen Musik, als seine Einflüsse. Lawrence, den man sonst aus dem Golden Pudel Club in Hamburg kennt, wird unterstützt vom Darmstädter DJ Thomas Hammann (Robert Johnson Club, Offenbach). An diesem Sommerabend können Musikmutige mit allen anderen in alter Manier neu tanzen. Und vielleicht ist in dieser Nacht ja dann der neumusikalische Beat genau am Puls der Zeit.

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