P-olemik_Mann
Illustration: Martina Hillemann

Erhobene Zeigefinger sind unentspannt und spießig. Leute, die anderen erklären, was sie wie zu tun und zu lassen haben, gibt’s schon genug. Was aber tut der Motzki, der nicht anders kann? Er eskaliert. Das kathartische Wutschreiben im Zeichen des erhobenen MITTELfingers widmet sich dieses Mal … einem grantelnden Greis.

Lautes, unflätiges Gezeter reißt die Pendler aus ihrer morgendlichen Trance. Wo sind wir? Wie spät ist es? Was ist los? Dreieich-Buchschlag. 8.28 Uhr. Ein Pensionär – dunkler Mantel, karierter Pepitahut, goldenes Kassengestell – ist soeben zugestiegen und schimpft wie ein Rohrspatz auf den armen Zugführer. Seine Beleidigungen, stadiontauglich: „Idiot, unverschämter! Sauerei das! Lässt mich zehn Minuten bei der Kälte im Regen stehen! Und dann auch noch frech! Depp, blöder!“ Seinen Stockschirm stößt der Grantler dabei wie einen Tambourstab ruckartig in die Luft. Zwischen den S-Bahn-Nutzern fliegen vereinzelt wissende Blicke hin und her. Ach so. Ein frustrierter Nörgler. Ein Unverbesserlicher. Am besten gar nicht reagieren, sein Gemaule ins Leere laufen lassen.

Aber der Krawall-Opa hat noch lange nicht fertig. Er akklimatisiert sich gerade erst und mault sich warm. Jetzt hat er seine Knochen aufs bequeme Polster sortiert. Von hier aus pöbelt es sich trefflich. „Zu spät kommen, aber dauernd die Preise erhöhen! Mit dem deutschen Michel kann man’s ja machen! Der lässt sich alles gefallen! Scheißladen!!“ Oha, da ist wohl heute jemand mit dem falschen Gichtfuß zuerst aufgestanden. Erheblich neben der Spur, der Alte. Bemerkenswert gelassen dagegen sein Sitznachbar. Ohne eine Miene zu verziehen, weicht der Banker geschmeidig den kaum vorhersehbaren Pirouetten der metallenen Schirmspitze aus und widmet sich ansonsten seiner Morgenlektüre auf dem Tablet.

Die S-Bahn hat sich längst wieder in Bewegung gesetzt und gleitet in Richtung Bankenmetropole. Nicht ganz pünktlich, okay, aber alles im grünen Bereich. Doch ob der anhaltenden, nicht jugendfreien Tiraden des Mecker-Greises droht jetzt die Mimik des mir gegenüber sitzenden Teenagers zu entgleisen. Er wird rot und röter. Bleib stark, Junge, bleib stark! Pokerface ist angesagt. Allenthalben verstohlenes Schmunzeln im Waggon, bemühtes Dem-Gegenüber-auf-die-Schuhspitzen-Gucken. Die schnellstmögliche Rückkehr in den Stand-by-Modus ist das Ziel. Noch ein paar Minuten dösen, bevor die werktägliche Großstadthektik von uns Besitz ergreift.

Immer auf der Suche nach neuen Opfern

Nicht so der Senior. Warum auch? Hat heute wahrscheinlich eh nix anderes vor, als in irgendwelchen Wartezimmern zu sitzen und Arzthelferinnen zu beleidigen. Der Pepita-Pöbler sucht sich eine Projektionsfläche. Die zusammengekniffenen Kulleraugen, wandern von links nach rechts über den Brillenrand und wieder zurück. Dann hat er sein Opfer ausgemacht. Es ist die schräg gegenüber sitzende junge Frau. „Entschuldigen Sie bitte“, flötet der Griesgram, plötzlich honigsüß und sanft, die Unglückliche an. „Sollte dieser Zug nicht schon um 8.23 Uhr in Dreieich sein?“ Sie hebt den Blick, will etwas erwidern – das reicht schon. Während sie noch Luft holt, wähnt sich der Alte schon in einem Dialog. Was ihn ermächtigt, seinen Hirnwindungen weitere seiner verqueren Standpunkte zu entlocken und sie mit gehobener Stimme unters Volk zu bringen.

„Wissen Sie, ich bin weit über 80 und zu 90 Prozent schwerbehindert. Früher waren da Unterstände. Alle abgebaut. Aber Verspätung. Und schon wieder die Preise erhöht! Und dann wird der noch frech! Suppenkasper da vorne!!“ Beifallheischend blickt er sich um. Doch nur die gegeneinander gelehnten Velos der Pendler halten seinem fordernden Blick stand. Na gut. Auch für die hält er einen Kommentar bereit: „Alles voller Fahrräder hier. Ist ja klar, die Leut’ können sich alle kein Auto mehr leisten. Sind doch viel zu teuer! Traurig, traurig. Geht alles de Bach runner hier.“

Sachsenhausen. Gleich muss ich raus. Schade eigentlich, wo der Grantel-Greis gerade ein neues Fass aufmacht: „Es hat ja keiner mehr Umgangsformen heute. Bitte, Danke, Entschuldigung – das kennt ja keiner mehr. Nur noch Ellbogen und rücksichtslos. Schlimm ist das!!“ Der Zug hält, die Türen öffnen sich. Ein Dutzend lächelnder Pendler tritt auf den Bahnsteig. Ach, das Leben ist schön.

Illustration: Martina Hillemann
Illustration: Martina Hillemann