Verkehrspolemik
Illustration: Martina Hillemann

Erhobene Zeigefinger sind unentspannt und spießig. Leute, die anderen erklären, was sie wie zu tun und zu lassen haben, gibt’s schon genug. Was aber tut der Motzki, der nicht anders kann? Er eskaliert. Das kathartische Wutschreiben im Zeichen des erhobenen MITTELfingers widmet sich dieses Mal … der Freisprecheinrichtung.

„DUUUUUUUUUD!!!“ – Auf dem Trottoir dreht sich die Mutter erschrocken um. Geistesgegenwärtig zieht sie ihre Tochter am Schulranzen zu sich heran. Aber Entwarnung: Der penetrante Ton gilt gar nicht den beiden, das Auto rauscht vorbei. Am Steuer sitzt offenbar ein besonders wichtiger Mitmensch, der augenblicklich im Begriff ist, ein besonders wichtiges Telefonat zu führen. Zumindest lässt der Fahrzeugführer alle Welt wissen, dass sein Bolide dieses trendige Feature an Bord hat: eine Freisprecheinrichtung! Und ne fette Audio-Anlage dazu. Regler nach rechts und aus den Boxen wummert das gute alte Freizeichen als nebelhornmäßiges Hupen. Sonderausstattung, nicht billig. Aber kann was. Hört man noch zwei Blocks weiter. Geiles Teil, Mann. Genau wie die Karre. Aber Du bist ja auch wer. Wichtig eben. Soll das prekäre Fußvolk da draußen ruhig wissen. Yo, Respekt, Alter – DU VOLLHONK!

Seit es gleich mal 60 Euro kostet, wenn man während der Fahrt mit Smartphone erwischt wird, ist die Freisprecheinrichtung, kurz: FSE, die Rache des kleinen Männchens. Den saftigen Aufschlag für das Business-Audio-Paket mit Telefonschnittstelle zu zahlen, ist ein lohnendes Investment. Allemal zumindest für beratungsresistente Schwachköppe, die sich reihenweise mit Handy am Steuer hoppsnehmen lassen. Schon nach sieben bis elf Mal hat sich für die so eine Freisprecheinrichtung amortisiert. Toll! BSE ist Neunziger. Der Wahnsinn des 21. Jahrhunderts heißt FSE!

Das Hirn in Stand-by

Aber, von wegen Gender und so: Frauen können das natürlich auch. Neulich Morgen wähnte ich eine Domina mit Flüstertüte vor meiner Haustür. Das war mal ne deutliche Ansage. Bei geschlossenem Fenster hab ich das eigene Radio nicht mehr gehört – dafür jedes Wort eines Alltagsdialogs. In brillanter Sprachqualität, selbstredend. „Hallo!? Ist da die HNO-Praxis? – Ja Gunnmorng, Müller hier, was kann ich für Sie tun? – Ah ja, hallo. Schneider mein Name …“

Am Fenster stehend, brauche ich einen Moment, bis ich orte, woher die Beschallung kommt. Eine Dame mittleren Alters hat ihren BMW gegenüber geparkt, die Sonnenblende heruntergeklappt, glupscht den Schminkspiegel an und zieht sich routiniert ihren Lidstrich nach. Ist heutzutage ja nix, wobei man nicht noch vortrefflich in Volksfestlautstärke telefonieren könnte. Dank – genau, Ihr wisst Bescheid – Freisprecheinrichtung! Nun darf ich, wie alle anderen Anwohner, das Telefonat weiterverfolgen. „Ich hab heute einen Termin bei Ihnen. – Schneider, sagen Sie? – Ja. – Neunuhrdreißich? – Stimmt. Aber ich kann den Termin heute leider nicht wahrnehmen, ich bin verhindert …“ – Was heißt hier VERhindert, Du Kanaille!?!

Statt den Alternativterminabstimmungsprozess zu verfolgen, gehe ich zum Hoftor. Als ich auf die Straße trete, hat die Lady gerade ihr Auto abgeschlossen. „Ohrenentzündung, was?“, frage ich sie. Sie guckt mich mit genau so großen Augen an, wie eben ihren Schminkspiegel. Aber mit der Freisprecheinrichtung scheint sie auch Hirn samt Sprachzentrum in Stand-by geschaltet zu haben. „Naja, jedenfalls – auch im Namen der gesamten Nachbarschaft: Gute Besserung!“

Ich fürchte, Miss Lidstrich hat den Wink mit dem Zaunpfahl nicht geblickt. Aber dafür geht’s mir gleich ein bisschen besser.