Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Jeden Tag bahnt sich unser Leben seinen Weg durch Darmstadts Straßen. Wohin wir auch unterwegs sind, überall gehen wir über Darmstäder Boden, ständig gibt er unseren Füßen Halt. Doch haben wir uns jemals gefragt, was sich unter der Oberfläche befindet, über die wir uns so vertrauensvoll und alltäglich hinwegbewegen? Wechseln wir einmal die Perspektive und bohren uns wie ein Maulwurf in den Untergrund. Worauf stoßen wir?

Orpheus, der einst in der griechischen Unterwelt sang, hätte auch bei uns eine ordentliche Bühne gefunden: Darmstadts Untergrund durchzieht ein weitläufiges Netz von Gängen, Gewölben – und Geschichten aus vergangenen Zeiten. Seitdem 1979 ein frischgebackener Hausbesitzer in der Dieburger Straße eine ominöse Kellertür öffnete und damit das Tor in eine vergessene Unterwelt fand, sind sie in aller Munde: Die Darmstädter „Katakomben“. Diese Bezeichnung ist eigentlich falsch für die Gewölbekeller, Tunnel und Gänge, die sich unter Tage zwischen Dieburger Straße und Lucasweg befinden und sich bis zur Mathildenhöhe ziehen.

Während es sich bei Katakomben um Leichengewölbe handelt, wurde diese Anlage geschaffen, um etwas wesentlich Angenehmeres zu beherbergen: Es handelt sich um Bierkeller aus dem 19. Jahrhundert. Denn, kaum vorstellbar, damals herrschte in Darmstadt eine gravierende Biernot! Da die Einwohnerzahl von 10.000 Menschen um 1800 auf 70.000 bierdurstige Kehlen um 1900 emporschnellte, wurde es eng in den Lagerhallen der kleinen Brauereien, die sich hier angesiedelt hatten. Sie begannen ein ausgeklügeltes System von Gewölben in die Felsen an und unter der Mathildenhöhe zu schlagen. Das weiche Gestein dort bot aufgrund seiner kühlenden Eigenschaften einen enormen Vorteil: Die Temperatur im Bierlabyrinth blieb automatisch konstant bei neun Grad Celsius. Wurden niedrigere Temperaturen benötigt, schlug man des Winters Eis im Woog und schüttete es in sogenannte „Kühldome“, zur Oberfläche hin offene, kuppelförmige Höhlen, wodurch die Fässer sogar auf vier Grad heruntergekühl werden konnten – ganz ohne Elektrizität. Diese löste mit der Erfindung der Kühlmaschine Anfang des 19. Jahrhunderts die Bierkatakomben nach und nach ab.

Das finstere Kapitel der Darmstädter Katakomben

1933 übernahm die Darmstädter Nazi-SA einen Teil der Kellersysteme und mit der Nutzung als Kerker brach ein finsteres Kapitel an: Die Darmstädter Unterwelt wurde zum Gefängnis, in dem jüdische Mitmenschen verschwanden. Doch Räume sind unparteiisch: So, wie sie vom nationalsozialistischen Regime zur Folter missbraucht wurden, so boten sie auch den Bürgern im Krieg Schutz vor Verfolgung und Bombenangriffen; viele wurden als Luftschutzbunker genutzt. Nach dem Krieg geriet die Stadt unter der Stadt in Vergessenheit. Heute sind viele Gänge verschüttet und eingebrochen, Stalaktiten ragen aus der Decke und nur manchmal, wenn Nikolaus Heiss und seine Kollegen vom Denkmalschutz die Tore öffnen, wagen sich neugierige Darmstädter auf die abenteuerliche Tour nach unten. Öffentliche Führungen werden mehrmals jährlich angeboten oder können privat vereinbart werden. „Aber erst ab April“, betont Heiss, „wegen der Fledermäuse“. Wer sich hinuntertraut, wird wenige Schritte unter dem Dieburger Biergarten in eine vergessene Welt eintauchen, der Taschenlampe folgend sich in der Finsternis über den unebenen Grund tasten und Relikte aus anderen Zeiten finden, wie zum Beispiel Latrinenanlagen aus dem Krieg oder alte Fahrstuhlschächte für Bierfässer. Der erdige Geruch des alten Gemäuers und die Schatten im Licht der Taschenlampe an der Wand lassen dort unten vielerlei alte Geschichten lebendig werden.

Zu den „Katakomben“ gehört auch der Brauereitunnel, der unter der Dieburger- und Alexanderstraße verborgen liegt. Etwas Mystisches umgibt diesen Stollen, denn: Die Brauerei nutze ihn zwar, um Kühlwasser abzuleiten, doch gebaut wurde er schon wesentlich früher! Auf seiner gesamten Länge maß er einst 2,5 Kilometer und verband den Heiligen Kreuzberg (heute Tanzschule Bäulke) mit dem Schloss. Die Entstehung oder der Sinn des aufwändigen Grabwerks sind an keiner Stelle dokumentiert, was natürlich die Legende eines Geheimgangs nährt. Andere vermuten in dem Gang einen Fluchtweg, wieder andere hegen den langweiligen und dennoch wahrscheinlichen Verdacht, dass es sich um eine Art mittelalterliche Wasserleitung handelt. Gewusst wird allerdings wenig, weil sich die Forschungsaktionen über Darmstadts Unterwelt eher auf das Engagement ambitionierter Einzelpersonen stützen als auf systematische Untersuchungen. So bleiben die vielen anderen Gänge, in denen sich nach Erzählungen der älteren Generation im Krieg auf der Suche nach Schutz Liebespaare fanden und Lausbuben spielten, genauso eine Legende wie die Beschaffenheit der Gänge unter dem Herrngarten und dem Schloss, die im 18. Jahrhundert Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt nach Eigenaussage samt ihrer eigenen Gruft selbst gebuddelt haben will. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie 1774: „Lassen Sie mich in dem großen Boskett im englischen Garten begraben. Man wird daselbst eine Grotte finden, die außer mir, ihrem Werkmeister, niemand bekannt war.“ Sollte Caroline uns nicht angeschwindelt haben, müsste sich diese dort, unter ihrem Grab hinter dem Staatsarchiv im Herrngarten, noch heute befinden.

Unter den Ausstellungshallen der Mathildenhöhe

Doch unser Maulwurfsspaziergang führt uns nicht bloß durch Märchen und Tagträume. Bereits in der Nähe der alten Bierkeller können wir wieder hinabsteigen und mit eigenen Augen sehen: Tief unter den Ausstellungshallen der Mathildenhöhe befindet sich ein gigantischer Wasserspeicher. 4.800 Kubikmeter fassen die beiden Gewölbe, die Teil des 1880 eröffneten Darmstädter Wassernetzes waren. Zu dieser Zeit fehlte aufgrund der Bevölkerungsexplosion neben dem Bier noch viel dringender benötigtes, sauberes Trinkwasser, damit Versorgung und Hygiene gewährleistet waren und der Cholera somit endlich der Garaus gemacht werden konnte. „Das Besondere an dem Gemäuer“, erklärt Denkmalpfleger Heiss, „sind die Fugen. Man kaufte damals 100.000 Eier aus dem Odenwald auf, um mit dem Eiweiß den Mörtel wasserdicht zu machen.“ Erst 1994 wurde der „Pufferspeicher“ seiner Aufgabe entledigt und geleert. Funktionieren würde er noch immer.

Heute steht in dem geziegelten Raum das Wasser nur noch zehn Zentimeter hoch, so dass Besucher mit Gummistiefeln hindurchwaten können. Dies lohnt sich besonders, wenn Künstler sich die mystische Atmosphäre des Speichers zu Nutze machen: Zu den „100 Jahre Stadtkrone“-Feierlichkeiten der Mathildenhöhe 2008 beherbergte das Wasserreservoir eine beeindruckende Klanginstallation des weltbekannten Komponisten Karlheinz Stockhausen (1928-2007). Im Zusammenspiel mit schummrig-warmem Licht unter den Bogengängen und leisem Wellenschlagen der durch das Wasser watenden Menschen verliehen sie dem Ort eine unvergleichliche, befreiende Stimmung.

Wer nun vor lauter Begeisterung über den Darmstädter Untergrund behauptet: „Mensch, in Darmstadt treffen ja Welten aufeinander!“, der irrt gewaltig. Tatsache ist vielmehr, dass in Darmstadt Welten auseinanderbrechen. Durch unsere Innenstadt zieht sich nämlich unterirdisch der Rheingraben, einer der größten und aktivsten Grabenbrüche in Deutschland. Man kann es sich vorstellen wie einen wachsenden Riss, eine Bruchzone, die sich durch ganz Europa vom Mittelmehr bis in den Mjøsa-See in Norwegen zieht. Das Fundament des Darmstadtiums, welches genau auf der erosionsgefährdeten Fläche des Rheingrabens steht, wurde extra so gebaut, dass große Mengen des lockeren Gesteins absacken können, ohne dass das Gebäude in Schieflage gerät.

Zu guter Letzt noch eine erfreuliche Neuigkeit aus der Unterwelt: Durch Darmstadt fließt ein Fluss! Nun gut, wir wollen nicht übertreiben. Vielmehr handelt es sich, ganz passend zum Stadtnamen, um den Darmbach, der vom ehemaligen kleinen Woog (heute Woogsplatz) aus die Innenstadt und den Herrngarten unterirdisch durchfließt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein sah er noch Tageslicht, speiste womöglich den Schlossgraben und wurde sicher als Kloake genutzt.

Vielleicht ist es bisweilen ein Glück, dass manche Dinge unter unseren Füßen verborgen bleiben.

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