Foto: Woog Riots

Eigentlich begann alles vor einigen Jahren auf dem Heinerfest-Bierkarussell am Lui. Dort behaupteten die Jungs von Immergrün und Bushfire, wir hätten mit Woog Riots schon mal in Japan gespielt. Das war damals eine Urban Legend, aber die gefiel uns ziemlich gut und wir setzen alles daran, diese Legende in die Tat umzusetzen. Im Februar 2017 war es dann so weit: Abflug nach Japan, 18 Tage Rundreise, fünf Konzerte in vier Städten, unglaublich freundliche Menschen und ziemlich viele, grellbunte Eindrücke.

Unsere Reiseroute beginnt im Ballungsraum Kansai mit den Städten Osaka, Kyoto und Kobe. Weiter westlich werden wir Hiroshima besuchen, um dann wieder nach Süden in Richtung Yokohama und Tokio zu fahren. Dort werden wir auch für einen Tag am nicht weit entfernten heiligen Berg Fuji wohnen. Mit Japanrail-Pass in der Tasche und einem gemieteten Wi-Fi-Router geht es los. Es ist wichtig, immer online sein zu können, denn nur so können wir mit Hilfe von Google Maps noch die kleinste Punk-Bar oder den coolsten Plattenladen im fünften Stock finden.

Osaka, 24.02. + 25.02.2017

Der Frühstücksraum unseres ersten Hotels ist in der 15. Etage. So haben wir gleich einen Überblick über das Hochhäusermeer der 2,6-Millionenstadt Osaka. Die U-Bahn-Station am Bahnhof, an der wir unsere erste Erkundung beginnen wollen, verteilt sich über unendlich viele Ebenen mit ebenso vielen Ausgängen. In dem Gewusel wird man gefühlt auf Ameisengröße geschrumpft. Wir wollen die Aussicht auf dem Umeda Sky Building genießen. Der Gebäudekomplex besteht aus zwei Hochhaustürmen, die in 140 Metern Höhe mit einer freischwebenden Rolltreppe verbunden sind. Unser Hotel befindet sich im Vergnügungsviertel Dotonbori. Als Erstes fallen einem hier die riesigen Werbetafeln für Hostboys ins Auge. Mietbare Herrenbegleiter, die wie Popstars angepriesen werden. Androgyner Look, gebleichte Haare mit einem Styling zwischen Limahl und Rod Stewart. An den Straßenkreuzungen stehen ältere Herren in Uniformen, die mit Leuchtstäben den Auto- und Fußverkehr darauf hinweisen, wenn die Ampel grün oder rot wird. Die vielen Fahrräder fahren auf dem Gehsteig, denn Fahrradwege gibt es keine.

Die Location unserer ersten Live-Show ist gleich das krasse Gegenteil zur Millionenstadt: Das Namba Bears ist ein typischer, leicht schäbiger Rock’n’Roll-Keller von der Größe des Party-Kellers der Bessunger Knabenschule. Dosenbier wird aus einer Kühltasche am Eingang verkauft: Kirin oder Sapporo. Die japanische Underground-Musikszene jenseits des Mainstreams findet also trotz der immensen Einwohnerzahlen der großen Städte im überschaubaren Do-it-yourself-Rahmen statt. Silvana hatte anhand eines Artikels der Japan Times die angesagtesten Indiebands angeschrieben und gefragt, ob sie Konzerte mit uns spielen möchten. Diese Bands organisierten dann in den verschiedenen Städten so eine Art Mini-Festival mit vier bis sechs Kapellen pro Abend. So bekamen wir einen wunderbaren Überblick darüber, was gerade so läuft im Gitarren-Elektro-Underground Japans. Da in den extrem eng bebauten Städten kaum jemand Auto fährt, reisen alle Musiker mit öffentlichen Verkehrsmitteln an. In der Umgebung der Auftrittsorte gäbe es sowieso keine Parkmöglichkeiten. Schlagzeug und Gitarrenverstärker werden standardmäßig von den Musikclubs gestellt. Nach unserem Konzert erfahren wir dann noch die beste Story: Als Nirvana 1992 in Osaka spielten, eilte Kurt Cobain nach dem Hallenkonzert seiner Band genau in diesen Kellerclub, um sich hier die japanische Band Shonen Knife anzusehen. Wahrscheinlich hat er auch noch ein Bier aus der Kühltasche genommen.

 

Foto: Woog Riots

Kyoto, 26.02.2017

Von Osaka fahren wir in die nur 40 Zugminuten entfernte alte Kaiserstadt Kyoto. Obwohl auch hier knapp 1,5 Millionen Menschen leben, wirkt alles etwas kleiner und niedriger. Es gibt kaum Hochhäuser, dafür aber viele Tempel, Shintō-Schreine und andere historische Gebäude. Im Gegensatz zu anderen japanischen Städten wurde Kyoto im Zweiten Weltkrieg kaum zerstört. Schon mittags fahren wir direkt zum Soundcheck in den Club Socrates. Die Konzerte in Japan beginnen immer sehr früh, meistens ist schon um 18 Uhr Einlass. Der Konzertraum ist wieder sehr klein, aber diesmal gibt es im Vorraum sogar eine Bar! Das Publikum besteht zum Großteil aus den an diesem Abend aktiven Bands. Bei unserem Auftritt werden Silvanas Kleininstrumente lautstark kommentiert und unsere Songs überraschenderweise mitgesungen. Ein Gast lässt sich an unserem Verkaufsstand die unterschiedlichen Woog-Riots-Alben erklären und kauft sie dann alle. Nach der Veranstaltung gibt es direkt vor der Bühne vier Riesenpizzas und Bier für alle beteiligten Bands und deren Freunde. Ein sehr geselliger Ausklang. Zum Line-up zählt auch die Twee-Pop-Band Miniskirt. Deren deutscher Sänger zeigt uns auf dem Nachhauseweg die „Galaxy 500“-Bar, in der er unser Kommen bereits angekündigt hatte [Galaxy 500: legendäre Indie-Band aus den USA]. Und so legt der Barbesitzer zur Begrüßung gleich die B52’s auf, denn die würden doch so klingen wie wir. Wir hatten vor der Reise schon gelesen, dass es in Japan Listening-Bars gibt, deren Hauptzweck darin besteht, dass man der vom Wirt geschmackvoll ausgesuchten Musik zuhört. Und genauso eine Bar ist das Galaxy 500. In einem Hinterzimmer im ersten Stock eines schmuddeligen Gebäudes: Ein winziger Raum – so, als bestünde die Rocky-Bar in der Krone nur aus dem Tresen mit sieben Barhockern und einer perfekten CD- und Rock’n’Roll-Memorabilia-Sammlung dahinter. Der Mann hinter dem Tresen trägt ein Joy-Division-T-Shirt und sieht aus wie ein japanischer Ramone. Wenn er auf das Klo möchte, muss er an mehreren zusammenstürzenden CD-Stapeln vorbei unter der Theke hindurch krabbeln. Seine deutsche Lieblingsband sind die 80er-Elektro-Punker Deutsch Amerikanische Freundschaft, deren Hit „Tanz den Mussolini“ natürlich sofort aufgelegt wird. Im Tausch gegen eine Flasche Sapporo-Bier sichert sich dieser Musikkenner eine Woog-Riots-CD, die sofort aufgelegt wird. Ihm scheint’s zu gefallen, denn wir bekommen direkt noch ein weiteres Sapporo! (Playlist des Abends: siehe Infobox)

Kyoto, 27.02.2017

Am nächsten Tag besichtigen wir den Kiyomizu Tempel in den Bergen am Stadtrand von Kyoto. Auf dem Weg gibt es Kimono-Verleihhäuser. Hier kleiden sich asiatische Touristen traditionell ein, um die Tempelanlage mit der angemessenen Würde zu betreten. Auf dem Tempelgelände stehen unzählige Geldsammelboxen herum. Nach Einwurf darf man bestimmte Dinge tun, die Glück bringen und böse Geister vertreiben: zum Beispiel Wasser über eine Buddha-Figur gießen oder einen Wunsch auf einen Zettel schreiben und in einem Trog mit Wasser auflösen.

Kyoto, 28.02.2017

Zu den touristischen Attraktionen Kyotos gehört der ehemalige Kaiserpalast. Hier residierte das japanische Kaiserhaus bis zur Verlegung nach Tokio im Jahr 1869. Die beeindruckenden Gebäude aus Holz sehen fast aus wie neu, da sie immer wieder restauriert und instand gehalten werden müssen. Auf dringende Empfehlung eines Darmstädter Comic-Händlers besuchen wir natürlich auch das internationale Manga-Museum in Kyoto. Hier gibt es meterweise komplette Serien fast aller japanischen Manga-Comics, Informationen zur Geschichte, Entstehung und weltweiten Verbreitung des Mangas. In einem Extraraum findet eine Kamishibai-Vorführung statt. Hier werden in einem Holzrahmen Manga-Zeichnungen gezeigt und mit einer aufwendigen Show wortreich erläutert. Bis in die 1950er Jahre gab es in Japan, bevor das Fernsehen aufkam, knapp 50.000 Kamishibai-Geschichtenerzähler.

Viele spannende Orte, die wir besuchen, befinden sich schwer auffindbar in oberen Stockwerken: Bars, Restaurants, Plattenläden sind hier übereinander gestapelt. Man muss beim Erkunden immer auch einen Blick nach oben richten, um das beste nicht zu verpassen. Zum Beispiel ein Katzen-Café: Hier haben Menschen, deren Wohnung und Arbeitsbelastung keine Haustierhaltung zulassen, die Möglichkeit, Katzen zu knuddeln. Wir zahlen fünf Euro für 20 Minuten Katzengesellschaft inklusive eines Freigetränkes. Das gleiche gibt es auch mit Eulen, Igeln und Frettchen.

 

Foto: Woog Riots

Hiroshima, 01.03.2017

Mit dem japanischen Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen geht’s nach Hiroshima. Auf dem Bahnsteig ist eine Markierung angebracht, dass genau an dieser Stelle Wagen Nummer neun mit unseren reservierten Plätzen halten wird. Und tatsächlich stoppt der Zug so, dass sich die Tür exakt an dieser Markierung öffnet. In den Bahnhöfen, Zügen und U-Bahnen gibt es alle Informationen und Ansagen auch auf Englisch. Die japanischen Züge fahren extrem pünktlich und sind im Inneren sehr geräumig. Wir kriegen selbst unser mit Bandutensilien gefülltes Reisegepäck gut unter. Als wir in der Nähe unseres Hotels aus der Straßenbahn aussteigen, fällt sofort ein historisches, steinernes Gebäude auf, das offenkundig deutlich älter ist als die umliegenden Hochhäuser. Der Blick auf ein großes Schild neben dem Eingang schafft schnell Klarheit: Es handelt sich um die ehemalige Bank of Japan. Auf einer Abbildung aus dem Jahr 1945 sieht man, dass nach dem Abwurf der Atombombe die gesamte Umgebung dem Erdboden gleichgemacht wurde, nur die stabilen Mauern der Bank hielten der Druckwelle stand, trotzdem hatte im Inneren niemand überlebt. Wir sind in Hiroshima. Ganz in der Nähe auf der Insel Miyajima befinden sich zwei der meist besuchten touristischen Attraktionen Japans: Das im Wasser stehende Torii und der Itsukushima-Schrein, die beide auf der UNESCO Welterbeliste stehen. Auf der ganzen Insel laufen zahme Rehe umher. Eine angenehme Erholung, bevor wir uns der Millionenmetropole Hiroshima und ihrer traurigen Geschichte widmen.

Hiroshima, 02.03.2017

Obwohl man schon sein gefühltes ganzes Leben Bescheid weiß, was sich in Hiroshima am 06. August 1945 abgespielt hat, ist der Besuch vor Ort absolut bedrückend. In 600 Meter Höhe wurde die an einem Fallschirm abgeworfene Bombe, wie vorher genau berechnet, gezündet. Innerhalb von zwei Sekunden wurde die gesamte Stadt zerstört und ein Großteil der Bevölkerung getötet oder schwer verletzt. Im Friedensgedächtnismuseum ist der ganze Schrecken mit vielen Originalstücken ziemlich eindrücklich dokumentiert. Man sieht ein Modell der zerstörten Stadt, viele zerfetzte Kleidungsstücke der Opfer, Trümmerteile, Fotos, Berichte von Augenzeugen und ein Modell der Bombe. Unglaublich, dass diese nur ungefähr vier Meter lange unförmige Waffe eine solche Zerstörungskraft in sich hatte. In den Arsenalen der Atomwaffenstaaten sind heute tausendfach stärkere A-Waffen als die Hiroshimabombe immer noch ständig abschussbereit. An das Museum schließt sich ein Park als nationale Gedenkstätte an. Als Friedensdenkmal von Hiroshima wurde eine dreistöckige, ausgebrannte Ruine stehen gelassen: Das Bauwerk hat einen Turmbau in der Mitte, dessen erhaltene Stahlkuppel sehr eindrücklich an diesen Tag erinnert. Um wieder auf freundliche Gedanken zu kommen, besuchen wir abends Dumb Records, eine kleine Punk-Bar (natürlich im 2. OG) mit Plattenladenregal an einer Wand. Dumb steht für „Dig Underground Music Base“. Hier sind wir genau richtig und kommen auch direkt mit dem Wirt ins Gespräch. Er freut sich über den Besuch einer tourenden Band aus Germany und schenkt uns gleich eine DVD-Dokumentation der Europatournee seiner Punkband The Apers. Dann muss er zur Probe im gleichen Gebäude. Ein weiterer Gast im Anzug, der eher nach Business aussieht, hat scheinbar schon in jeder Punkband Hiroshimas gespielt. Er gibt uns eine Sampler-CD, auf der sie alle mit einem Song vertreten sind und eilt ebenfalls in den Proberaum.

 

Foto: Woog Riots

Kobe, 03.03.2017

Weil uns das Gewicht unserer Koffer mittlerweile doch nervt, fahren wir mit einem Taxi vom Bahnhof ins Hotel. Wir steigen in eine schwarze Limousine, die an einen Opel Admiral oder Ähnliches erinnert. Vorder- und Rücksitze sind mit weißen Fake-Häkelüberzügen ausgestattet, der Fahrer trägt eine Uniform mit Mütze und weiße Handschuhe. Die Türen öffnet der Chauffeur elektrisch, ohne auszusteigen, ansonsten schweigt er während der ganzen Fahrt. An die luxuriöse Ausstattung japanischer Kloschüsseln haben wir uns mittlerweile gewöhnt: Beheizte Brille, Hinterteil-Dusche und Parfümierung, Soundfunktion zum Übertönen natürlicher Geräusche. In unserem Hotel in Kobe öffnet sich auch noch der Klodeckel automatisch, wenn man sich auf 20 cm annähert. Das hat mehr etwas von R2D2 als von einer Sanitäreinrichtung. Unser Live-Konzert findet in der Helluva Lounge statt, die etwas schicker eingerichtet ist, als die bisherigen Clubs. Das Konzert hat wie schon in Osaka netterweise die japanische Band Yolz In The Sky organisiert. Zwei Jungs, die abgedrehten Elektro-Experimental-Industrial-Funk spielen. Ein Gast hat uns schon in Osaka gesehen und bringt noch mal seine dort erworbene Woog-Riots-CD zum Signieren mit. Mittags hatten wir gelesen, dass Lukas Podolski nach Kobe wechseln wird. Also fragen wir das Publikum, ob sie ihn kennen. Die einzige positive Reaktion kommt von einem Kanadier aus Toronto. Später fragt er Marc nach der Lilie auf seinem 98er-Trikot, denn die kennt man in Kanada als Wappen von Quebec. Ein junger Besucher erzählt uns von seiner großen Vorliebe für deutschen Pop-Underground: Seine Lieblingsbands sind Palais Schaumburg und Krupps, die kennen selbst in Deutschland nur Eingeweihte. Er macht selbst auch Musik und schenkt uns eine CD seines aktuellen Projektes. Der Sänger der Band Waikiki Champions lädt uns ein, beim nächsten Mal auch in Sendai aufzutreten. Das wäre auf der anderen Seite der Insel, weit hinter Tokio in der Nähe von Fukushima. Er war extra mit dem Flugzeug angereist, um mit uns in der Helluva Lounge zu spielen.

Kobe, 04.03.2017

Am Hafen besichtigen wir den Kobe Tower, eine rote Stahlkonstruktion im Science-Fiction-Look der 60er-Jahre. Von dort aus hat man einen tollen Blick auf die Stadt. Ein unglaubliches Geflecht aus Straßen, Hochautobahnen auf Brücken und Hochhäusern. Der Stadtrand wird von Bergketten eingefasst, an denen das Häusermeer endet. 1995 wurde Kobe von einem schweren Erdbeben getroffen. An einem Brückenpfeiler der Hochstraße sehen wir ein Foto, das zeigt, wie diese riesige Stahlkonstruktion an einer Nahtstelle um einen Meter auseinander geschoben wurde. Am Nachmittag laufen wir durch das Viertel Kitano. Hier siedelten sich Ende des 19. Jahrhunderts Ausländer an, die nach Japan kamen. Sie errichteten kleine Häuser im europäischen Stil, die heute eine Attraktion für asiatische Touristen sind. Ein Anwesen trägt die Inschrift „Rhenania“ über dem Hofeingang. Abends spielen wir im Club Der Kiten. Ein schmaler Schlauch in einem Keller, der noch kleiner wirkt als die Clubs, in denen wir bisher waren. Der Raum ist total voll gestopft mit Gegenständen jeglicher Art: große Nudelkartons voller Schallplatten, alte Lautsprecherboxen, Mischpulte, Sperrholzmöbel und alles, was man sich als Clutterer so in seinen Club schaffen würde. Die Theke ist zugestellt mit Flaschen, so dass man den netten Clubbesitzer dahinter kaum sehen kann. Die Boxen für den Live-Sound und die Disko sind jedoch vom Feinsten. Genauso wie die CD-Player und Plattenspieler. Wir sind zu Gast beim DJ-Team Donut-Talk, die hier viermal im Jahr eine Party veranstalten. Das Event läuft von 18.30 Uhr bis Mitternacht. Schon kurz nach sieben herrscht beste Stimmung und es wird getanzt. Die fünf DJs wechseln sich ab, gespielt wird ausschließlich japanischer Pop von Indie bis HipHop. Der Laden ist knallvoll! Unter den Zuschauern ist auch eine Gruppe Schotten und Amerikaner, die schon bei unserem Konzert in Osaka waren. Den Schotten und seine Freundin treffen wir vorher per Zufall in einem Gyoza-Restaurant, und das in einer Millionenstadt! Als Native Speaker kennen sie noch unsere Texte vom Konzert in Osaka und heizen die Stimmung kräftig an, auch das japanische Publikum macht euphorisch mit. Als Bühnendeko laufen hinter uns Videos von der Sendung mit der Maus, die der Wirt höchstpersönlich ausgesucht hatte. Am Ende des Abends werden alle DJs und die Band dem Publikum zum Foto-Shooting präsentiert. Ein DJ hält eine Dankesrede, dann geht es zum gemeinsamen Ausklang in ein China-Restaurant, was wir leider wegen Erschöpfung ablehnen müssen, und so verabschieden uns viele Gäste mit einem goldig ausgesprochenen „Dankescheeen“.

Kobe, 05.03.2017

Wir machen einen Ausflug in die Stadt Himeji, die ebenfalls in der Nähe von Kobe im Kansai-Ballungsraum gelegen ist. Dort befindet sich eine von zwei in Japan erhaltenen Samurai-Burgen mit dem Status Unesco-Welterbe. Das im 14. Jahrhundert erbaute Himeji Castle thront auf einem Berg in der Mitte der Stadt. Sie ist als sechsstöckige Holzkonstruktion auf der Bergspitze in die Höhe gebaut. Das Ganze sieht von Weitem aus, wie ein Hochhaus im Samurai-Stil. Abends fahren wir nach Osaka, um ein Konzert der schottischen Indie-Band Teenage Fanclub zu sehen. Der Konzertsaal für 700 Besucher befindet sich im zehnten Stock eines Gebäudes. Vor dem Einlass müssen sich alle Karteninhaber im Treppenhaus aufstellen. An jedem Treppenabsatz hängt ein Schild mit Nummern, zum Beispiel „450-500“. Hier müssen wir uns einreihen. Irgendwann setzt sich dann die gesamte Warteschlange langsam nach oben in Bewegung. An der Einlasskontrolle im zehnten Stock werden nochmals die Ticketnummern auf Japanisch aufgerufen, die jetzt hineingehen dürfen. Wer sich falsch angestellt hat, muss wieder nach unten. Beim Konzert werden die englischen Texte der Band lautstark mitgesungen. Teenage Fanclub sind begeistert. Danach gehen wir mit anderen Konzertbesuchern noch in einen Irish Pub. Der ist auf der Straße nur durch einen Aufsteller zu finden und befindet sich im 6. Stock. Man fährt mit dem Aufzug nach oben und landet direkt im fensterlosen Barraum. Am Tresen steht ein Japaner vor einem vollen Glas Guiness und schläft. Für diese Art des Schlafens in der Öffentlichkeit gibt es ein extra Wort: Inemuri. Dieser Kurzschlaf ist sehr angesehen, denn er zeigt, dass man höchstwahrscheinlich sehr viel gearbeitet hat.

 

Yokohama, 06.03.2017

Von Kobe fahren wir mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen nach Yokohama. Yokohama ist eine Vier-Millionen-Metropole, 30 Kilometer entfernt von Tokio. Im Großraum Yokohama-Tokio leben insgesamt 35 Millionen Menschen. Die Hafenstadt Yokohama war die erste Stadt, in der sich nach der Öffnung Japans Ende des 19. Jahrhunderts ausländische Firmen und Garnisonen ansiedelten. Leider ist nur sehr wenig historische Bausubstanz erhalten geblieben, weil die meisten Gebäude dieser Zeit aus Holz waren. Am Hafen stehen noch zwei alte rote Backstein-Lagerhallen, die zu Shopping Malls und Ausstellungshallen umgebaut wurden. Die Skyline am Hafen wird von Hochhäusern geprägt. Aus der Zeit des aufblühenden Handels gibt es in Yokohama ein Chinatown. Der bunte chinesische Schmuck der Straßen, mit Toren und einem größeren Tempel, hebt sich optisch vom zurückhaltenden japanischen Stil deutlich ab.

Yokohama 07.03.2017

Wir machen einen Ausflug nach Kamakura, um den Daibutsu, eine riesige Buddhastatue aus dem 14. Jahrhundert, zu sehen. Der Buddha aus Bronze ist 15 Meter hoch und innen hohl, man kann sogar hineingehen. Die Statue hat bereits einen Tsunami und das große Erdbeben von 1923 überstanden. Am nahegelegenen Strand sehen wir hunderte Wellenreiter beim Surfen im Wasser. Zurück in Yokohama gibt es noch eine eine Hafenrundfahrt und abends besteigen wir ein gigantisches Riesenrad am Hafen.

 

Fuji, Kawaguchiko, 08.03.2017

Mit einem Bummelzug fahren wir zum See Kawaguchiko, der direkt am Fuji gelegen ist. Dort steigen wir in einem Ryokan ab, einem traditionellen japanischen Hotel. Wir haben einen fantastischen Blick auf den Fuji, den heiligen und höchsten Berg Japans. Dieser noch gering aktive Vulkan ist 3.700 Meter hoch und 1707 zum letzten Mal ausgebrochen. Wir sehen ihn wie auf einer Postkarte mit schneebedecktem Gipfel und im See gespiegelt. Abends gibt es ein Keiseki, ein japanisches Menü mit Sashimi (rohem Fisch) und Shabu Shabu (ein Fondue mit Brühe) mit Wagyu Rindfleisch, das zarteste der Welt. Auf dem Balkon unseres Zimmers können wir ein heißes Bad in unserem privaten Onsen nehmen. Bei minus 2 Grad Außentemperatur sitzen wir in 42 Grad heißem Wasser und schauen auf den Fuji. Ein heißes Bad im Onsen zu nehmen ist in Japan genauso populär wie die Sauna in Finnland.

 

Foto: Woog Riots

Tokio, 09.03.2017

Auch für den Weg vom Fuji in Richtung Tokio besteigen wir wieder einen lokalen Zug. Der japanische Lokführer trägt eine adrette Uniform und sieht aus wie ein Flugkapitän. Unser Hotel liegt im Innenstadtviertel Shinjuku hinter dem direkt das Rotlichtquartier Kabuchiko beginnt, das bislang noch nicht von durchgestylten Shopping-Tempeln verdrängt wurde. In einem Teil davon stehen nur einstöckige Mini-Häuser, ein Ausgehbezirk trägt den Namen „Golden Gai“. Hier gibt es Late-Night-Bars und Ein-Tisch-Restaurants sowie die Rockbar „Hair Of The Dog“ mit Sex-Pistols-Plakat vor der Tür. An unserem Hotel ist am achten Stock auf einer Terrasse ein Godzilla-Kopf in Originalgröße angebracht. Zu jeder vollen Stunde kommt der Ur-Schrei wie im Film aus Lautsprecherboxen auf der Straße. Aus dem Maul des Monsters zucken Lichtblitze und Rauch steigt auf. Marc ist begeistert. Am Nachmittag fahren wir nach Shibuya, dem Einkaufs-Mekka Tokios. Hier fahren relativ wenig Autos umher, aber der Fußverkehr stellt eine echte Herausforderung dar. An der berühmten Kreuzung „Shibuya Crossing“ prallen Massen von Fußgängern aus allen Richtungen zusammen, ohne dass sie sich anrempeln. Der Stadtteil besteht aus kleineren, mittleren und sehr hohen Betongebäuden, die komplett mit Leuchtreklamen vollgehängt sind. Um sich von dem ganzen Wahnsinn zu erholen, fahren wir in das etwas weiter außerhalb gelegene Viertel Shimokitazawa, das uns von der Website Tokyo Cheapo empfohlen wurde. Hier ist die Alternativkultur zu Hause. Die Preise sind günstiger, es gibt nette Bars, Shops und Clubs der Subkultur.

Tokio, 10.03.2017

Ebenfalls im Stadtbezirk Shibuya befindet in einem waldartig angelegten Park der Meiji-Schrein. Nach dem Shinto-Glauben ruhen hier die Seelen des 1912 verstorbenen Kaisers Meiji (1852 bis 1912) und dessen Gemahlin Shoken. Der Schrein und der umgebende Wald wurden 1920 angelegt. Kaiser Meiji war der maßgebliche politische Gestalter der Öffnung des bis dahin nach außen abgeschotteten Japan Ende des 19. Jahrhunderts. In der Nähe des Parks kommen plötzlich schwarz gekleidete Emo-Kids aus allen umliegenden Straßen und U-Bahn-Ausgängen. Am Abend wird hier in einem gegenüberliegenden großen Konzertsaal die angesagte J-Rock- und Metal-Band The Gazette vor über 13.000 Zuschauern spielen. Schon um 12 Uhr mittags ist der Platz vor der Halle mit stilecht gekleideten Fans gefüllt, die mit Megafon-Durchsagen in die richtige Aufstellung vor dem Einlass dirigiert werden. Wir laufen weiter zur Takeshita-Dori. Diese Straßen und die umliegende Gegend erinnert an Camden-Town in London. Hier kann man allerlei Fan-Produkte der Popkultur und massenweise Süßkram erwerben. Zurück im Stadtteil Shijuku suchen wir eine uns sehr empfohlene Filiale der „Disc Union“-Plattenladen-Kette. In der angegebenen Straße stellen wir fest, dass sich hier gleich fünf Gebäude mit Disc-Union-Läden befinden, aufgeteilt in Klassik, Jazz, Rock, Folk und Verschiedenes. Der Rockladen ist dann nochmals je nach Etage in verschiedene Unter-Genres unterteilt. Völlig platt kommen wir zurück ins Hotel und schauen uns den ersten Schwarz-Weiß-Godzilla-Film von 1954 im Pay-TV an. Nur neun Jahre nach Hiroshima wird hier die Zerstörung Tokios durch das Monster gezeigt. Die Bilder der Zerstörung sehen genauso aus wie die Fotos im Friedensmusem von Hiroshima. Entstanden war Godzilla durch einen amerikanischen Atombombentest. Der Film verarbeitet augenscheinlich gleich mehrere japanische Kriegstraumata.

Tokio, 11.03.2017

Das Rathaus von Tokio ist in zwei eng zusammenstehenden Hochhaustürmen untergebracht. Im 45. Stockwerk hat man bei freiem Eintritt einen tollen Blick über die gesamte Stadt, die sich in allen Richtungen bis an den Horizont erstreckt. Unser fünftes und letztes Konzert findet im Stadtteil Koiwa statt. In diesem etwas weiter außen gelegenen Bezirk sind die Häuser nur noch dreistöckig und alles wirkt etwas kleinteiliger. Der Musikclub Bush Bash befindet sich diesmal in einem Laden im Erdgeschoss, bestehend aus einem Bar-Raum mit kleiner Plattenladen-Ecke, einer Organic-Food-Speisekarte und einem davon mit einer Stahltür abgetrennten Konzertraum für 50 bis 70 Zuschauer. Als Exoten des Abends dürfen wir als Letzte spielen, vor uns fünf japanische Bands, die alle auf ihre Art sehr eigen sind. Organisiert hat das Konzert das Minimal-Post-Punk-Duo Sa-Yuu aus Yokohama, das eigentlich in jeder internationalen Indie-Hipster-Musikzeitung gefeiert werden müsste. Eine wilde Mischung aus Hardcore-Punk und Mainstreampop bringt die Band Youngsounds auf die Bühne. Die beiden eigentlich unvereinbaren Stilrichtungen wechseln sich innerhalb der Songs mit harten Übergängen ab und werden auch von unterschiedlichen Sängerinnen und Sängern vorgetragen. Das Publikum passt seinen Tanzstil entsprechend an und geht direkt vom Discofox in Pogo bis zum Umfallen über. Zum Glück verteilen wir während unserer Show Effekt-Feuerwerks-Brillen, so dass wir dem Abend einen passenden Abschluss bereiten. Es wird auch wieder getanzt und mitgesungen. Als wir nach dem Einpacken unserer Instrumente zurück in den Vorraum kommen, stehen die Leute in einer korrekten Schlange wie an einer Bushaltestelle vor unserem Verkaufsstand. Die Platten und CDs werden genau nach Lieblingssongs aus dem Konzert untersucht und mitgenommen.

Tokio, 12.03.2017

Am Flughafen Tokio Haneda bekommen wir kurz vor dem Einsteigen eine automatische E-Mail der Internet-Bandplattform Bandcamp. Es hat uns jemand aus Tokio Geld überwiesen und unser aktuelles Album „Alan Rusbridger“ auf Vinyl bestellt. Leider haben wir den Koffer mit den Restbeständen unseres Merchandises gerade eingecheckt. Wir werden die Platte also nach unserer Ankunft in Darmstadt zurück nach Tokio schicken. Ein schöner Abschluss und ein großes Dankeschön nach Japan. Arigatou gozaimasu!

Links zu Videos aller Bands, die mit den Woogies in Japan gespielt haben, findet man im Tourkalender auf www.woogriots.de

 

Playlist des Abends in der Listening-Bar Galaxy 500

B52’s

Plastics – CD „Forever Plastico“ (japanischer New Wave aus den 80ern, klingt wie Devo).

Kraftwerk „it’s more fun to compute“

Deutsch Amerikanische Freundschaft „Tanz den Mussolini“

Senior Coconut „The Robots“

Daniel Johnston

Jad & David Fair – Album „Shake Cackle And Squall“

Mercury Rev

Woog Riots