Es war im August 1988. Mein Onkel feierte seinen Fünfzigsten, und ich musste mich in ein todschickes Sakko quälen. Als Turnschuh-Punk ein Akt der Blasphemie. Solche Feierlichkeiten gingen mir „voll auf den Senkel“, aber ich mochte meinen Onkel – und seine drei Häuser.

Daher überging ich auch seine „total öde“ Jazz-Affinität, die darin gipfelte, dass er bei jener Feier ein Jazz-Quintett im Kaminzimmer aufspielen ließ. Ich stapfte durch den Garten und wollte mit dieser „Altherren-Kacke“ nichts zu tun haben. Aber die Hitze war erbarmungslos und der einzig gescheite Ventilator im Kaminzimmer. Dort stand mittig ein älterer Herr mit

Posaune nebst weiteren Musikern – („ … alte Säcke, wusst’ ich doch“) – und entlockte seinem Instrument mal sanfte, mal zirpende, mal harmonische, mal unbändige Töne, die mein spätpubertäres Genörgel schnell im Keim erstickten. Ich verstand überhaupt nicht, was da vor sich ging, aber mein Atem stockte, denn das Gehörte kam mir genauso „frei“ vor wie die „Freiheit“, die ich damals nur im Punk zu finden glaubte. Technische Virtuosität, die mich beim Rock meist als unnötige Selbstdarstellung nervte („Gitarrengewichse“), führte beim Mann mit der Posaune zu faszinierend neuen Klangmustern.

Der Mann mit der Posaune war Albert Mangelsdorff. Er war Deutschlands vielleicht bedeutendster JazzMusiker, nicht nur weil er ein Blasinstrument mehrstimmig spielen konnte, „sondern weil er ein unglaublich schöpferischer Mensch war – einer der wenigen echten Innovatoren des Jazz“ (Süddeutsche Zeitung, 2005). Legendär war seine so genannte Multiphonics-Technik: Dabei sang er in sein Mundstück und formte aus den so entstandenen Obertönen eigene Klangwelten. „Angeblich haben ihm die Singvögel geholfen, sein Instrument, die Posaune, zu befreien: Er soll im Frankfurter Westend, wo er lebte, die Schwarzkehlchen, Rotschwänzchen und Grauammern studiert haben, ihren Gesang und ihre Leichtigkeit“, schrieb der „Spiegel“ in einem Nachruf. Albert Mangelsdorff starb 2005 im Alter von 76 Jahren.

Grafik: Jazzinstitut Darmstadt
Logo: Jazzinstitut Darmstadt

Ihm – genauer: seiner Wirkung auf den deutschen Jazz – ist das diesjährige Jazz-Forum des Jazzinstituts Darmstadt von Freitag, den 25. September, bis Sonntag, den 4. Oktober 2009, unter dem Titel „Tension /Spannung“ gewidmet. Das Jazzinstitut als Europas größtes Informations- und Dokumentationszentrum in Sachen Jazz haben wir in der allerersten Ausgabe des P (im März 2008) schon entsprechend gewürdigt. Das renommierte Jazzforum findet seit 1989 alle zwei Jahre statt und widmet sich dabei jedes Mal einem anderen Oberthema. Es ist eine weltweit einmalige Mischung aus Fachkongress, Konzertreihe, Workshop und Ausstellung.

Neben einem internationalen Fachsymposium im Literaturhaus (1. bis 3. Oktober, Eintritt frei) wird eine vom Jazzinstitut konzipierte Wanderausstellung über Albert Mangelsdorff eröffnet. „Die Albert Mangelsdorff Rolle“, eine viereinhalbstündige filmische Dokumentation über den Posaunisten, ist am 4. Oktober in der Kunsthalle zu sehen. Und natürlich gibt es Konzerte: mit dem Emil Mangelsdorff Quartett, Alberts älterem (!) Bruder (25. September, im Jazzinstitut), dem Vibraphonisten Wolfgang Schlüter (30. September, im Kulturzentrum Die Fabrik in Frankfurt), dem Posaunisten Roswell Rudd (2. Oktober, in der Bessunger Knabenschule), sowie dem Nils Wogram Nostalgia Trio und dem Duo Joe Sachse & Uwe Kropinski (3. Oktober, ebenfalls in der Knabenschule).

Ein Jazz-Kollege Mangelsdorffs, der oft geistreichsarkastische Michael Naura, schrieb: „Wir nannten ihn zärtlich ,der Albert‘. Er war unser Über-Ich. Er war die sanfte Autorität par excellence. Als Musiker ein Genius, als Mensch vorbildlich.“ Ich verstieg mich an jenem Abend im Kaminzimmer meines Onkels zur Formulierung, „neue Ufer jenseits der gerodeten Kontinente und überfischten Weltmeere entdeckt zu haben“. Mein pubertäres Genörgel zerfloss in schwülstiges Gedöns. Aber mein Onkel lächelte wissend.

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