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Foto: Jan Ehlers

Die in Emden geborene, aber inzwischen in Darmstadt heimische Mila Burghardt ist eine Video- und Performance-Künstlerin, seit 2015 auch Mitglied der Darmstädter Sezession (renommierte Künstlervereinigung seit 1919). Ihre Arbeiten setzen sich – mal ernst, mal eher spielerisch – mit den zentralen Themen unserer Gesellschaft auseinander: Körper, Macht, Individuum und Gesellschaft. Beim nachmittäglichen Hörspiel ging es bei Kirschschorle diesmal nicht ums Erraten von Songs, sondern um den Bezug der Werke zur Künstlerin – der mal mehr und mal weniger deutlich ans Licht kam.

 

Die Wildecker Herzbuben „Hallo, Frau Nachbarin“

Wer kennt sie nicht, die nordhessischen Könige des volkstümlichen Schlagers (die in echt gar nicht so dick sind, wie sie auf der Bühne wirken)? Dieser grenzwertige Smash-Hit über das Stalken der schönen Nachbarin stammt von ihrem 1990er Debüt-Album „Herzilein“.

Mila [lacht schallend]: Oha! Ich fühl mich wie ertappt, denn ich wohn‘ in der Heimstättensiedlung.

Das ist einer der Stadtteile, in die ich eher selten komme. Mir ist nur aufgefallen, dass dort die Bayern-München- und Ferrari-Fahnen-Dichte in den Vorgärten sehr hoch ist.

Abwarten, die Gentrifizierung kommt auch da noch hin! Aber zur Musik: Ich hab ja in meinen Stücken eine Vorliebe für Schlager, die spiel‘ ich mit einem Mini-Keyboard, das hat vorprogrammierte Songstrukturen – sehr praktisch.

Ich habe das Stück ausgewählt, weil es bei Wikipedia das erste musikalische Beispiel zum Begriff „Kitsch“ ist und Du ja 2009 eine Installation namens „Mehr Kitsch im Alltag“ kreiert hast. Hast Du Dir unter Kitsch so was vorgestellt?

Nein, mir ging‘s eher um kleine Sachen, die den Alltag verschönern. Aber nicht so was! Ich hab mal jemanden getroffen, der hatte ein Herz auf die Wange tätowiert, das entspricht eher meiner Vorstellung von Kitsch. Vielleicht braucht man mehr ironischen Abstand dazu, der fehlt mir bei den Herzbuben.

 

Fischmob „Bonanzarad“

Sehr gelungenes HipHop-Stück über die 1994 coolste Art der Fortbewegung, das Bonanzarad-Fahren.

[Hört sehr interessiert zu]: Ich verorte das sehr norddeutsch …

Ja, das ist auch richtig, die Crew kommt aus Flensburg. Aber mir ging’s hier eher um das Thema des Songs, nämlich das Fahrradfahren, das Du ja in Deiner Arbeit „Velo-Fortune“ aufgegriffen hast. Wie funktionierte „Velo-Fortune“?

Nun …[räuspert sich] Kunst kann ja alles, ist ja quasi Magie! Bei „Velo-Fortune“ wachsen am Fahrradlenker Blumen. Und je länger man fährt, desto größer wird die Blume.

Und welche Fahrräder wurden genutzt? Coole Bonanzaräder oder doch eher die beschaulichen Holland-Räder?

Schon eher die Holland-Räder. Das ist möglicherweise für mich, da ich ja aus Norddeutschland komme, die natürlichste Art, sich vorwärts zu bewegen. Man muss sich sonst schon immer so beeilen, da sollte man wenigstens beim Fahrradfahren seine Ruhe haben können.

Stören Dich die hessischen Mittelgebirge beim Fortbewegen?

Ja, ich finde es hier schon sehr bergig, aber das sieht jemand aus den Alpen vermutlich anders.

 

Bert The Turtle / Archer Productions „Duck And Cover“

In einem Propagandafilm des amerikanischen Verteidigungsministerium von 1951 wurde Schulkindern klargemacht, wie man den Atomkrieg überlebt. Man legt sich auf den Boden und hält den Schulranzen über den Kopf. Und Bert, die Schildkröte, war das Maskottchen.

Du hast ja im August 2014 diese Performance im Bunker unter dem Karolinenplatz gemacht.

Ja, das war eine Gemeinschaftsveranstaltung: Das Blumen hatte diesen ehemaligen Atombunker für eine Woche zur Verfügung und hat uns [neben Mila noch die Künstler Johannes Gonné, Julia Krämer und Karwath+Todisko, Anm. der Red.] als loses Ausstellungskollektiv gefragt, ob wir das bespielen wollen [was dann unter dem Namen „Ernstfall Kultur“ auch stattfand und großen Anklang fand]. Ich fand es spannend, dass man in den 1960er Jahren gesagt hat, dass im Falle eines Atomkriegs für alle gesorgt sei: „In Darmstadt muss sich niemand Gedanken machen!“ Und ich hab mich gefragt, was heißt denn „für alle gesorgt“? Der Bunker unter dem Karolinenplatz war einer von dreien in Darmstadt und für 2.000 Leute ausgelegt. Ich habe dann vor Ort Strichlisten gemacht: Einen schmalen Streifen mit 2.000 Strichen und dann noch 6.0000 andere Striche – das waren die Leute, die nicht reingekommen wären.

Die Biege zu „Duck And Cover“ kriegen wir jetzt nicht hin, oder?

Doch! Die Bunker bringen ja genauso viel wie die Idee, sich mit einer Aktentasche vor dem Einschlag einer Atombombe zu schützen. Es ist der Versuch, die Panik nicht ausbrechen zu lassen …

… die man vorher durch seine eigene Politik geschürt hat.

Ja, denn sonst könnte es ja noch Kritik geben … Das finde ich immer noch spannend: Angeblich gab es keine Listen, wer diese 2.000 Plätze bekommen hätte. Das kann ich mir kaum vorstellen.

 

D.A.F. „Ich und die Wirklichkeit“

1980 war das spätere Dance-Duo Deutsch Amerikanische Freundschaft noch eine richtige Wave-Band, die sich Sorgen um ihren Platz „im wirklichen Leben“ machte.

Das deckt ja wirklich alle Kernthemen ab, die mich gerade beschäftigen und in meiner Arbeit auftauchen.

Nämlich?

Einerseits Identität: „Ich und ich“. Meine letzte Produktion hatte den Arbeitstitel „Ich ist viele“. Die Fragen, die mich beschäftigen, drehen sich um Persönlichkeit, soziale Rollen und die Schaltstelle im Gehirn. Sind die vielen „Ichs“ hierarchisch aufgestellt und wenn ja: Wer hat das Sagen?

Und „andererseits“?

Und dann noch Wirklichkeit, mit großem Fragezeichen: Wo und wie nehmen wir wahr, was wir wahrnehmen? Man kann auch aus der Wirklichkeit eine Möglichkeit machen.

Was ist, ist. Was nicht ist, ist möglich?

Genau. Meine nächste Arbeit wird 2017 eine raumfüllende Installation in der Kunsthalle Darmstadt sein, gekoppelt mit einer Reihe von drei Performances. Es geht um den Punkt, wo die Wirklichkeit und die Virtualität sich treffen. Und um Erinnerungen: In dem Moment, in der man sie erzählt, überschreibt man sie. Was ist wirklich und was ist virtuell und wo ist der Zwischenraum? Ich verstehe „virtuell“ dabei als „Raum der Möglichkeiten“. Nicht im Sinne von „Technik“, „Cyberbrille“, „cool“, sondern, dass darin eine Möglichkeit enthalten ist, die noch nicht eingetreten ist.

 

Geier Sturzflug „Bruttosozialprodukt“

An diesem saxofonlastigen Kommentar zum Wirtschaftswachstum kam 1983 kein Hitparaden-Hörer vorbei. „Wenn früh am Morgen die Werkssirene dröhnt …“

[Mit leicht skeptischem Blick]: Ich weiß nicht, ob die musikalischen Verbindungen, die Du zu mir gezogen hast, mich in ein gutes Licht stellen.

Ach, wieso? Das Bruttosozialprodukt beziehungsweise seine Steigerung sind doch auch ein großes Thema Deiner Arbeit, oder?

Was mich immer wieder beschäftigt, sind Erwartungen, die die Gesellschaft vermeintlich an die Menschen stellt. Wobei die meisten übersehen, dass ja wir alle die Gesellschaft ausmachen. Vielleicht sind diese Erwartungen also letztlich nur eingebildet.

Du bist davon ausgegangen, dass sie eingebildet sind?

Es ist paradox: Keiner sagt, dass es so sein muss, aber alle gehen davon aus, dass es ein gesellschaftlicher Konsens sei … dass wir letztlich in einem Raster festhängen. Ich hab‘ für eine meiner Arbeiten eine Umfrage gemacht und die Leute gefragt: „Was machen Sie denn so den ganzen Tag?“ Und am Ende hab ich jeweils gefragt: „Und warum machen Sie das so?“ Darauf hatte letztlich kaum jemand eine plausiblere Antwort außer: „Das mache ich schon immer so.“

 

Guz „Drogen nehmen und rumfahren“

Der Sänger der Schweizer Band Die Aeronauten schrieb diese Hänger-Hymne 2013 für sein Album „Der beste Freund des Menschen“.

[Beim Hören des Refrains]: Das ist doch schön …

Würdest Du das Konzept des Songs, also „Drogen nehmen und rumfahren“ als eine Antwort sehen, um sich von den Zwängen des Alltagsgehorsams zu lösen?

Hmm … Wenn es eine Antwort darauf gibt, dann kenne ich sie nicht. Ich glaub‘ eher, dass man sich überlegen sollte, ob die Motivation, warum man etwas tut, die ist, die man gerne hätte. Bei dem Guz-Lied denk‘ ich: Vielleicht ist das das Bild, das die Gesellschaft von Künstlern hat. Wobei das natürlich nicht zutrifft. Mein Arbeitstag ist beispielsweise ein ziemlich normaler: acht bis zwölf Stunden im Atelier arbeiten.

Die „arbeitende Bevölkerung“ würde jetzt sagen: Die Künstler haben die Zeit und Muße, sich die Gedanken über das Thema zu machen. Wir dagegen müssen uns abhetzen, damit die Kasse stimmt.

Dafür haben Künstler aber auch weniger Geld! Viele Leute könnten sich diese Gedanken auch machen – wenn sie dazu bereit wären, die Konsequenzen zu tragen. Und überhaupt: Ich gehöre auch zur arbeitenden Bevölkerung!

 

Orchester Werner Müller „Bodybuilding“

1972 war Arnold Schwarzenegger „Mister Universum“ und seine Sportart in aller Munde – und auch das Thema locker-flockiger Easy-Listening-Stückchen.

Der Song besteht aus einer Diskussion zwischen Mann und Frau über einen Männerkörper und heißt „Bodybuilding“.

Ach, das bezieht sich sicher auf meine Arbeit „Perfect Body“. Das ist schon ewig her. Und es war ganz spannend, denn: In den Fitness-Studios zu schwitzen, das ist Jetztzeit. Aber es wird schon geforscht, wie man Zellen manipulieren kann, um neue Körper zu gestalten. Wie wird sich unser Alltag entwickeln, wenn das mal standardmäßig nutzbar ist? Wenn man intelligente Zellen hätte, was würde man mit denen machen? Man würde sich nicht mehr abrackern, sondern könnte sich seinen Körper aussuchen. Und ich habe mit „Perfect Body Assessment“ eine interaktive Videoinstallation entwickelt. Die Teilnehmer konnten sich eine Produktpalette ansehen und anhand der eigenen körperlichen Reaktionen darauf, zum Beispiel über die Schweißproduktion, bekamen sie präsentiert, was der ideale Körper für sie wäre. Und das war schon eine sehr bunte Mischung an Körpern.

Ist das Einzige, was sich seit „Bodybuilding“ 1972 geändert hat, dass man nicht mehr unbedingt im Fitness-Studio schwitzen muss, um den Traumkörper zu bekommen?

Die Bilder, die zu erreichenden Idealkörper, haben sich schon geändert in den letzten Jahrzehnten. Aber ansonsten ist das ein ziemlich altes Thema.

Schon in der Antike wurde die Suche nach dem Idealkörper thematisiert, oder?

Ja, Schönheitsideale, das Streben nach einem Bild und der Versuch, Bild und Selbst in Einklang zu bringen, das ist wahrscheinich uralt und wird nicht aufhören.

 

Lou Reed „Perfect Day“

Immergrüne Schwelgeballade vom 1972er „Transformer“-Album.

[Schwelgt]: Das ist jetzt aber schön, da sitz‘ ich gedanklich am Außenhafen in Emden, da darf man offiziell gar nicht hin … aber da kann man sehr gut sitzen und traurige Musik hören.

Und wenn die traurige Musik weggehört und die Rotweinflasche ausgetrunken ist, dann war‘s der perfekte Tag?

Hmm … wann war‘s ein perfekter Tag? Perfekte Tage fangen jedenfalls nicht so früh an, können aber gern bis in die Nacht gehen. Ich finde auch, dass zu einem perfekten Tag ein fließendes Gewässer gehört. Das macht es in Darmstadt etwas schwierig.

Der Woog zählt nicht?

Nein, da muss schon ein bisschen mehr sein.

In vielen Deiner Arbeiten geht es um das Streben nach Perfektion. Ist die Gesellschaft davon besessen oder Du?

Die Gesellschaft ist davon besessen. Mich interessiert dabei die Schaumkrone, das Streben nach etwas Höherem – dass man immer denkt, es könnte noch besser gehen. Gut ist nicht gut genug.

So gesehen: Kann man den perfekten Tag in Darmstadt nicht doch erleben?

Natürlich kann man auch hier perfekte Tage haben. Man kann das Wasser ja auch ersetzen durch Freunde, Wein, Bier. Er ist aber weder planbar noch beliebig wiederholbar.

 

Fettes Brot „Nordisch by Nature“

Und zum Abschluss nochmal HipHop aus dem Norden – 1995 rappten die Brote noch plattdeutsch.

Ahh! Wir verlängern den Heimatausflug, oder?

Ja, mit „Nordisch by Nature“ sollten wir das hinkriegen, oder? Sprichst Du eigentlich platt?

Leider nicht wirklich, ich kann nur so drei Floskeln, denn meine Eltern kommen nicht aus Norddeutschland. Inzwischen gibt es Platt aber sogar als Schulfach. Viele empfinden es übrigens als sehr deprimierend, wenn sie in den Norden fahren und da ist dann nichts. Die Landschaft besteht nur aus einer Linie. Aber für mich ist das sehr befreiend. In den Bergen sieht man ja ganz viel Land und nur ein kleines Stückchen Himmel. Im Norden fängt der Himmel viel früher an.

Ich hatte ja befürchtet, dass eine „ernste Künstlerin“ nicht auf ihre Heimat angesprochen werden will. Deshalb hab ich den Song auch ganz ans Ende gesetzt.

Nun, es gibt da schon einen Unterschied zwischen der straighten Performerin und dem Menschen. Bis jetzt hab‘ ich übrigens noch keine Performance über meine Heimat gemacht.

Wie würde die denn aussehen?

Sie würde sich auflösen, sie wäre eine Art Fata Morgana. Etwas, das immer da war, aber in dem Moment, in dem man es anschaut, zerfällt es.

Wie der Scheinriese bei Jim Knopf?

Genau so.