Linie 3
Illustration: Ruth Schmidt

Eine Stadtrundfahrt auf Schienen bringt so manche Überraschung und Neuentdeckung mit sich. So auch jene vom Bahnhofsviertel über den Luisenplatz nach Bessungen mit der Straßenbahnlinie „3“.

An den imposanten hohen Glasfenstern, den lindgrünen Eingangspforten und der Empfangshalle mit goldverziertem Deckengewölbe ist der Darmstädter Hauptbahnhof sofort zu erkennen. Hier beginnt unsere alternative Stadtrundfahrt. In die Straßenbahn Nummer „3“ Richtung Lichtenbergschule eingestiegen, geht die 21-minütige Tour auch schon los.

Auf der rechten Seite begrüßt uns, neben dem größten Kino der Stadt, dem „Cinemaxx“, das „Braustüb’l“, die erste Kneipe an unserer Strecke. Wenig später erreichen wir die erste Haltestelle unserer Tour – die Feldbergstraße. Von dort sind Leos Spielepark, die Weststadtbar und das Weststadtcafé, das direkt an Gleis 378 liegt, ausgeschildert.

Vom Klinikum zum Willy-Brandt-Platz nach rechtsschauend erhascht der aufmerksame Straßenbahnfahrer einen Blick auf die runde, sandsteinfarbene Kirche mit grüner Kupferkuppel auf dem Wilhelminenplatz: die St.-Ludwigs-Kirche, auch Kuppelkirche oder „Käsglock‘“ genannt. Alteingesessene Darmstädter erzählen, dass die Kuppel, als die Kupferbleche frisch angebracht und noch nicht mit grüner Patina überzogen waren, so hell strahlte, dass man sie noch hunderte Meter weit sehen konnte.

Am Willy-Brandt-Platz angelangt, befindet sich linker Hand, nur wenige Schritte entfernt, die grüne Lunge Darmstadts, der Herrngarten. Ob Entenfüttern, einen Kaffee im Herrngartencafé trinken, Picknick mit Freunden, Slacklinen, Bolzen oder einfach nur einen schönen Spaziergang machen, hier kann jeder seine Seele baumeln lassen.

Oh, Du schönes Amtsgericht

Die Straßenbahn biegt rechts um die Kurve und dem Passagier fällt das hübsche Amtsgerichtsgebäude ins Auge, dessen Name in verschnörkelter, goldener Schrift über dem Eingang prangt. Fast immer bleibt die Bahn an der Ampel stehen und es bleibt Zeit, den Mathildenplatz zu betrachten. In der Mitte steht ein Springbrunnen, auf dem vier stolze Löwen posieren. Der Platz ist symmetrisch angelegt, Tauben laufen quer über Rasenflächen und kopfsteingepflasterte Wege. Die Ampel springt auf „grün“ und wir nähern uns dem Zentrum von Darmstadt, dem Luisenplatz. Unübersehbar ragt in der Mitte der Lange Ludwig, kurz: „Langer Lui“, in die Höhe. Während des Heinerfests ist der Aufgang zur Plattform für Besucher, die Darmstadt einmal von oben bestaunen wollen, geöffnet. Gegenüber dem Luisencenter ist das Kollegiengebäude, im 18. Jahrhundert gebaut und somit Darmstadts ältestes Verwaltungsgebäude. Heute ist es Sitz des Regierungspräsidiums.

Auf dem Luisenplatz ist – nicht nur, was den Straßenbahn- und Busverkehr betrifft – immer viel los. An diesem freundlichen Maitag ist der Himmel strahlend blau und die Stühle vor dem Eiscafé Tiziano sind, genau wie vorm „Da Carlo“ nebenan und vorm „Mini Café“ gegenüber, voll besetzt. Während die einen genüsslich ihr Eis genießen, schießt ein Mann aus der Seitenstraße hervor. Die Kellnerin kann in letzter Sekunde noch ihr Tablett mit Erdbeerbecher und Spaghettieis retten. Als die Bahn sich wieder in Bewegung setzt, gibt sich der Mann auf Höhe des Blumenladens am Luisencenter keuchend geschlagen: Bus oder Bahn verpasst.

Vor dem „Snack Point“ steht ebenfalls ein Mann, der nach Atem ringt und eine Flasche Mineralwasser in drei Zügen austrinkt. Doch dieser, von recht stattlicher Figur, hat keinen Hundertmetersprint hinter sich, sondern eine Currywurst Schärfegrad „C“, die auch kräftige Männer ins Schwitzen bringt.

Am Schloss angelangt, ist aus der Straßenbahn ein buntes Markttreiben zu beobachten. Der Platz ist voller Stände, die Obst und Gemüse anbieten. Dahinter steht das alte Rathaus, aktuell jedoch von einem Baugerüst und grünen Abdeckplanen verdeckt. Gegenüber dem Marktplatz liegt das Darmstädter Residenzschloss. Die Kuh auf der Dachterasse des schräg gegenüberliegenden Hauses scheint den Prachtbau kritisch zu betrachten. Auf den ersten Blick sieht die Plastik-Kuh täuschend echt aus, schwarz-weiß gefleckt, den Kopf ein wenig geneigt, nur „Muh“ macht sie bestimmt nicht. Jeder, der diese Kuh sieht, wird neidisch sein auf ihren Blick über die Dächer Darmstadts, fast auf einer Höhe mit dem Langen Lui und nur den blauen Himmel über sich.

neu_IMG_0540_1
Foto: Leonard Hofmann

Weiter geht’s vorbei am Darmstadtium linker Hand, wo gerade ein paar Skater an die alte Stadtmauer gelehnt Pause machen, vorbei an Darmstadts ältestem Club, der „Goldenen Krone“, unter dem Kleinschmidtsteg hindurch, über den es zur Stadtbibliothek und zum Skatepark geht, am „Club Neutral“ vorbei die Holzstraße hinauf nach Bessungen.

„Betreten der Rasenflächen verboten“

An der Haltestelle „Schulstraße“ knurrt beim Anblick der beiden Restaurants „Zum Grohe“ und „Sitte“ der Magen. Doch wir fahren weiter. Das satte Grün der Wiesen des Wolfskehlschen Parks an der Station „Goethestraße“ lädt geradezu zum Fußballspielen und Toben ein, wäre da nicht dieses Schild „Betreten der Rasenflächen verboten“. Am Freiberger Platz verdeckt das „Café Godot“ fast den Blick auf einen der Eingänge zur Orangerie. Gerade noch zu erkennen: Hier ist das Betreten der Rasenflächen erlaubt – und schon segelt eine Frisbeescheibe am Ohr eines Spaziergängers vorbei.

Die Straße hinein nach Bessungen, auf der die Schienen verlaufen, ist von hübschen Altbauten gesäumt. Nach der Haltestelle „Orangerie“ machen die Schienen eine Rechtskurve und führen am Fränkischen Fachwerkhaus vorbei. 1705 errichtet, stammt es noch aus der Barockzeit und gehört zu den Darmstädter Baudenkmälern. In der Mitte des Torbogens, der mit allerlei Schnitzwerk verziert ist, ist eine Art Wappen eingelassen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man ein Brot und eine Brezel darauf. Bei dem von den Sonnenstrahlen in warmes Licht getauchten halb Sandstein- halb Fachwerkhaus handelt es sich also um eine uralte Bäckerei. Wer einen Blick rechts die Bessunger Straße hinunter riskiert, sieht auf dem Kapellberg die Bessunger Kirche aus dem 16. Jahrhundert. In dieser Straße sind noch mehrere historische Gebäude zu finden, beispielsweise eine Metzgerei, über deren Tür in roten Sandstein „erbaut O. Kraft 1901“ gemeiselt ist.

neu_IMG_0531_1
Foto: Leonard Hofmann

Sobald die Stimme in der Straßenbahn die Haltestelle „Weinbergstraße“ angekündigt hat, ist das erste weinreben-umrangte Haus zu bewundern und wie zufällig ist eine weinrote Vespa vor dem Café „Linie 3“ geparkt. An der Ecke Bessunger/Ludwigshöhstraße steht ein Haus, das einen märchenhaften Charme versprüht: Es hat eine beige, mit Schnörkeln versehene, ein wenig abbröckelnde Fassade, einen Balkon, der auf zwei kunstvoll mit Schnitzereien verzierten Säulen gestützt ist und einen kleinen Turmerker. Wunderschön!

Wir sind auf der Zielgeraden. Es geht vorbei am frisch sanierten Bessunger Schwimmbad und am Kulturzentrum Bessunger Knabenschule. Kurzer Halt … und wenige Momente später erreicht die Linie „3“ die Endstation Lichtenbergschule. Ein paar Schüler der Akademie für Tonkunst steigen mit ihren Instrumentenkoffern ein – und wir aus.