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Foto: Jan Ehlers

Schon gewusst: Die „Lilien“ spielen jetzt in der ersten Liga! Kleiner Scherz. Meinen persönlichen Alltag hat der atemberaubende Aufstieg ja vor allem in einer Hinsicht verändert: Belustigte Verdauungsorgan-Kommentare und fragende Blicke, mit denen stets zu rechnen war, wenn ich außerhalb des Rhein-Main-Gebiets meinen Wohnort nannte, sind Geschichte.

Ich schaue jetzt in wissende Gesichter, man nickt mir anerkennend zu. Denn Darmstadt, das ist die Stadt des SV 98, dem Aufstiegswunder. Und schwuppsi, will man mit mir über Fußball reden. Als bekennender Nicht-Fan, dieser Tage eine ausgemachte Randgruppe im blau-weiß geschmückten „Lilien“-Städtchen, hab ich dazu allerdings kaum was zu sagen. Außer: Ja, echt, das ist schon wirklich, wirklich krass, also – was für ein Spektakel, das ham’se echt gerockt, meine Fresse … Und ich freue mich ehrlich für diesen sportlichen Erfolg, mit den Fußballjungs und mit all denen, die so herzlich ansteckend fußballselig sind, nach jahrelanger treuer Mitfieberei und überhaupt (dazu gehört auch ein Großteil der P-Redaktion, deutlich erkennbar am hohen Anteil der „Lilien“-Artikel in diesem Jahr). Aber, jetzt sag ich’s einfach frei raus: All die Lilien und das viele Blau-Weiß machen mich fertig. Ich halt’s nicht mehr aus!

Darum will ich – und mit mir das P – für Ausgleich sorgen. Von nun an soll an dieser Stelle über Sport berichtet werden, der in Darmstadt betrieben wird – und nicht Fußball ist. Über die Sportarten, die (noch) nicht von einem großen Publikum bejubelt werden. Zum Beispiel, weil sie bislang kaum wer kennt. Oder weil sie eben einfach zu speziell sind, um die Massen zu überzeugen. Oder vielleicht, weil man lieber unter sich bleibt? Wir gucken uns das an und erzählen Euch davon. Los geht’s: Zum Einstieg berichtet P-Redakteurin Gesa Blume aus der Darmstädter Swingtanz-Szene.

 

Folge 1: Balboa Heiner – Swingtanz in Darmstadt

Als ich zu Beginn der Tanzstunde „Balboa für Fortgeschrittene“ in der Darmstädter Tanzwerkstatt eintreffe, um mir das Treiben mal anzusehen, scheppert laute Swing-Musik aus den Boxen und erste Paare tanzen. Auch ich werde gleich aufgefordert. Offenbar wird jeder Neuankömmling von den Balboa Heinern freundlich empfangen.

Getanzt wird hier Lindy Hop, Charleston oder Balboa. Lindy Hop und Balboa sind Paartänze, die in den 20er, 30er Jahren in New York und auf der südkalifornischen Insel Balboa entstanden – dokumentiert in etlichen alten Musikfilmen dieser Ära. Alle drei Stile gehören zum Swing.

Ich probiere mich heute an Balboa. Tanzlehrerin Verena Jäger bringt mir den beschwingten Grundschritt bei. „1, 2 … 3, 4 … 5, 6 … 7, 8“, zähle ich im Kopf mit. Nach zehn Minuten weicht die Mathematik dem Gefühl für die Musik. Ziemlich cool!

Das Besondere an Balboa sind eine für Swingtänze enge Tanzhaltung (die Nähe zum Partner ist vergleichbar mit dem Walzer) und weniger raumgreifende Figuren, weshalb er sich auch für schnelle Swingmusik eignet. Der Fokus liegt auf der möglichst feinen nonverbalen Kommunikation zwischen den beiden Tänzern. Das sieht dann ein bisschen so aus, als ob sich fast nur die Füße bewegen, während der restliche Körper lediglich mit der Musik mitwippt.

Lindy Hop ist wuseliger und sieht zumindest für das ungeschulte Auge beeindruckender aus, ist aber auch körperlich anstrengender.

„Swingtanz zeichnet sich durch die vorurteilsfreie, undogmatische Haltung der Tanzenden aus. Das hat historische Wurzeln: Zur Zeit der Segregation in den USA entstand der Lindy Hop in der Jugendkultur. Die Tänzer trafen sich unabhängig von Hautfarben, feierten gemeinsam“, erklärt Verena. Anders als bei Standardtänzen sind beim Swingtanz gleichgeschlechtliche Tanzpaare eine Selbstverständlichkeit.

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Foto: Balboa Heiner

Ü-Ei-Effekt für die „Follower“

An diesem Abend werden in der Tanzwerkstatt die Tanzpartner oft gewechselt, so dass am Ende jeder „Follower“ mehrmals mit jedem „Leader“ getanzt hat. Ü-Ei-Effekt für die „Follower“: die „Leader“ probieren häufiger gerade Erlerntes spontan in den Tanz einzuflechten, was manchmal zu Verknotungen führt. Aber so lernt man’s!

Musik spielt für Swingtänzer eine große Rolle; Instrumentierung, Takt und Tempo bestimmen den Tanz. Dabei gilt es, keine festen Choreographien runterzurattern, die Paare improvisieren. Figuren und Schrittfolgen sind nicht wie bei anderen Tänzen streng festgelegt. „Das variable Zusammenspiel mit der Musik und die dadurch gegebene Freiheit machen einfach jede Menge Spaß“, freut sich Verena. Bereits nach wenigen Minuten sei man so mit Tanzen beschäftigt, dass man die ganzen Alltagssorgen für die Stunde hinter sich lasse. Dazu komme die Gemeinschaft, es gibt ein internationales Netzwerk von begeisterten Swingtänzern, die Workshops und Treffen organisieren und „gerne ihr Sofa für Angereiste zur Verfügung stellen“.

Die Balboa Heiner verfolgen den Traum, auch in Darmstadt die Swingszene nach Vorbild der europäischen und amerikanischen Metropolen zu etablieren. Die Swingbegeisterten zeigen sich, wenn sie bei Open-Air-Veranstaltungen – zum Beispiel in der Orangerie – einfach drauf los tanzen. „Da waren wir die Staubwolke am Rand der Zuschauergruppe“, erzählt Verena lachend. Seit zwei Jahren organisiert der Kern der Gruppe – Verena, Florian, Betina und Urs – Tanzkurse, Workshops und Partys wie das mehrtägige „Balboa Heiner Fest“, um die Darmstädter für Lindy Hop und Balboa zu begeistern und für sich selbst Tanzgelegenheiten zu schaffen. Dabei sprechen sie eine breite Zielgruppe an, von 16 bis 70. Grundsätzlich kann jede und jeder mitmachen. Einzige Voraussetzung: Die Musik – die von typischen Swingsongs wie Duke Ellingtons „It don’t mean a thing“ bis Zaz’s „Comme çi comme ça“ reicht – muss gefallen.

Swingtanz
Illustration: Hans-Jörg Brehm

Swing tanzen und gewinnen!

Du möchtest Swing tanzen in Darmstadt? Informationen, Kursanmeldungen, kommende Veranstaltungen und Tanzvideos findest Du unter: www.balboa-heiner.de

Win! Win! Das P verlost für den nächsten Lindy-Hop-Anfängerkurs, der im Januar 2016 beginnt (sechs Abende zu je 75 Minuten), 1 x 2 Karten im Wert von 90 Euro. Die genauen Daten des Kurses werden auf der Website von Balboa Heiner veröffentlicht (die Balboa Heiner sind aktuell auf der Suche nach einer neuen, dauerhaften Räumlichkeit).

Die Anmeldung für TU-Kurse „Swingtanz“ der Balboa-Heinerin Betina läuft über die Unisport-Website.

 
Weihnachts-Swingsalon in der Linie Neun

Am Anfang einer jeden Swing-Party gibt’s eine kostenlose Schnupperstunde zum Ausprobieren – Eintritt wird erst danach gezahlt. Die nächste Gelegenheit dazu gibt es am Samstag, 19.12., in der Linie Neun in Griesheim: Dort fangen im Weihnachts-Swingsalon zur Livemusik des Swinging Lexx Orchestra die Beine von alleine an zu shuffeln. Von 19.45 bis 20.45 Uhr ist Lindy-Hop-Probestunde, Eintritt danach: 8 Euro.