Papierillustration: Silke Widderich
Papierillustration: Silke Widderich

Wer Mahlers Fünfte hören will, das Jugenstilensemble bewundern oder den neuesten Blockbuster nicht verpassen möchte, findet sich in Darmstadt schnell zurecht. Das Staatstheater als Dreispartenhaus, die Mathildenhöhe als (vielleicht) künftiges Weltkulturerbe, Multiplexkinos versorgen Darmstadt mit Hoch- und Mainstreamkultur. Doch wo findet sich Platz für kleine, skurrile und Non-Profit-Kultur?

Wer sich Zeit nimmt, merkt schnell, dass es in der Heinermetropole eine Vielzahl an kreativen Köpfen gibt, die eigene, nicht ausgetretene Pfade beschreiten und so die Stadt bereichern. Klein angefangen haben sie alle, aber es gibt auch richtige Urgesteine. Im Jahre 1977 flimmerten von einem VW-Bus aus die ersten Super-8-Filme auf eine behelfsmäßige Leinwand im Braunshardter Tännchen. Heute besuchen jedes Jahr zehntausende Besucher und internationale Filmemacher das Open-Air-Filmfest Weiterstadt, um sich Kurzfilme anzuschauen. Weiterhin ist das Festival ehrenamtlich organisiert und setzt mit freiem (beziehungsweise freiwilligem) Eintritt ein Zeichen für eine Teilhabe aller am kulturellen Leben. Der Studentische Filmkreis der TU Darmstadt erweitert ganzjährig das cinematographische Angebot. Seit 60 Jahren werden im Audimax oder auch im Programmkino Rex Filmklassiker, Geheimtipps und aktuelle Hollywoodstreifen gezeigt.

Die Wissenschaftsstadt profitiert auch kulturell von ihren Hochschulen. Im Schlosskeller haben sich die Kulturhäppchen als fester Bestandteil der hiesigen Kulturszene etabliert. Sogar eine eigene Late Night Show hat Darmstadt dadurch erhalten, bei der neben lokalen Szenetypen ebenso (über-) regionale Prominenz – wie der aus der ZDF-Heute-Show bekannte Hans-Joachim Heist alias Gernot Hassknecht – als Gäste auftauchen.

Nicht nur in geschlossenen Räumen findet in Darmstadt Kultur statt. So haben Studierende des Fachbereich Gestaltung an der Hochschule Darmstadt im Januar eine temporäre Aktion im öffentlichen Raum initiiert: Eine Litfaßsäule in der Inselstraße ist mit Notizen zu einer Kurzgeschichte des Schriftstellers Arno Schmidt verkleidet worden (von September 1955 bis November 1958 wohnten Arno Schmidt, seine Frau Alice und Katze Purzel in der Inselstraße 42 in Darmstadt). Die Litfaßsäule wird sich im Laufe des Jahres immer weiter verändern. Einen ähnlichen Ansatz haben drei Bessunger Künstlerinnen gewählt, die in den kommenden Monaten den Prinz-Emil-Garten mit der Unterstützung strick-und häkelfreudiger Darmstädter farbenfroh verkleiden wollen.

Litfaßsäule in der InselstraßeFoto: Anna Zdiara
Litfaßsäule in der InselstraßeFoto: Anna Zdiara

Orte für Kunst und Theater

Platz für die hiesige Bildende Kunst stellen zahlreiche und vielfältige kleine Galerien zur Verfügung. Sie bieten den Besuchern Einblicke in die Kunstszene jenseits der großen Ausstellungen. Aber für den zahlreichen künstlerischen Nachwuchs bleibt es dennoch schwierig, Ausstellungsorte und Starthilfe zu finden: „Dieses Potenzial nicht zu fördern, wäre aber schade“, meint auch Johannes Gonné, Projektleiter von Earlstreet. Die Initiative hat sich zum Ziel gesetzt, jungen Künstlern und Designern Netzwerke und Ansprechpartner anzubieten und ihre Werke aus den Kellern ins Rampenlicht zu holen. Außerdem erschließen die Kunstfreunde um Gonné immer neue Räumlichkeiten für Darmstädter Künstler. Wer sich dafür interessiert, kann sich bei den wechselnden Ausstellungen in den Räumen in der Pallaswiesenstraße 25 und in den permanenten Schaukästen in der Schulstraße 5 („Earlstreet 5“) selbst einen Eindruck verschaffen.

Auch Darmstadts Theaterlandschaft profitiert von Eigeninitiativen einzelner kreativer Köpfe, die es schaffen, weitere engagierte Menschen um sich zu sammeln. Einer davon ist Klaus Lavies. Vor fast 20 Jahren gründete er einen Verein und machte eine ehemalige Kfz-Werkstatt im Hinterhof der Lauteschlägerstraße 28 a zum Hoffart-Theater. Fans der Konzertreihe „Gute Stube“ kennen das Hoffart jedoch nicht für seine zahlreichen Kinder- und Jugendtheaterstücke, sondern als den Ort, an dem sie im altmodischen Wohnzimmersetting Musik von Songwritern und kleinen Bands lauschen können. Die Idee, Konzerte in kuscheliger Umgebung zu organisieren haben sich auch die Jungs und Mädels von Bedroomdisco zu Eigen gemacht. Seit über fünf Jahren holen sie ihre Lieblingsbands an einen geheimen Ort nach Darmstadt, der erst kurz vor dem Konzert per E-Mail bekannt gegeben wird.

Vom Konsumenten zum Macher

Allen solchen Initiativen gemeinsam ist, dass sie nicht nur auf Bestehendes zurückgreifen, sondern das Kulturangebot der Stadt aktiv mitgestalten wollen. Das trifft auch auf das Zucker in der Liebfrauenstraße zu. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen Veranstaltungsraum, vielmehr ist das Zucker ein „Verein zur Förderung der Selbstmach-Kultur“. Der Gedanke dahinter ist, dass sich Interessierte mit einer Veranstaltungsidee einen Paten aus dem Verein suchen und mit dieser Unterstützung das Ganze realisieren. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt: Von Videoabenden mit Punk-Filmen bis zum Schlechte-Witze-Festival gibt es alles. „Es geht auch darum“, so Mitinitiator André Liegl, „andere dazu anzuregen, eigene Projekte an anderen Orten auf die Beine zustellen. Solche Projekte können sich gegenseitig befruchten und für ein kreatives Klima sorgen, das Mut macht, selbst ein Projekt umzusetzen.” Aber Mut alleine reicht nicht, das weiß auch Liegl. „Das alles entsteht ohne offizielles Zutun – und das ist natürlich nur möglich, wenn es genug Leute gibt, die Zeit, Geld und Herzblut investieren. Ohne diese Leute keine Kultur”, fasst er zusammen.

Darmstadts ältester Ort, der vielen solcher Gruppen der DIY- (Do It Yourself-/ Selbstmach)- Kultur eine Plattform bietet, ist die Oetinger Villa. Seit 1991 entfalten sich in der Gründerzeitvilla zahlreiche Gruppierungen mit poli­tischer oder künstlerischer Aus­­­richtung. Die ehrenamtliche Organisation von Musikveranstaltungen ist bis heute ein wichtiger Aspekt, wie die Konzerte und Partys der Angeschimmelt Youth Crew, von Dubstadt und des rheinmain-weit vernetzten Künstlerkollektivs Knertz zeigen.

Kultur braucht eine Heimat

Also alles in Butter? Keineswegs. Denn der quirligen, kreativen Szene Darmstadts fehlt es an Raum. An Räumen für Ideen, aber auch an Ideen für Räume. Es ist nicht leicht und keineswegs billig, an Räumlichkeiten zu kommen, in denen man sich subkulturell austoben kann. Das heimatlos gewordene Blumen sucht dringend eine neue Wirkungsstätte. Ein Netzwerk mit den richtigen Kontakten kann da helfen, weshalb sich auch eine Gruppe Darmstädter Kulturschaffender Anfang 2014 zum Verein Kreative Darmstadt e.V. zusammengeschlossen hat. Darmstädter Blogs und Bücher wie „Heinermusik“ und „Nachts in Darmstadt“ sorgen dafür, dass lokal Kulturinteressierte hinter die Kulissen schauen können. Neben dem Medium Eurer Wahl, geneigte P-Leser, gibt es auch auf Radio Darmstadt (RadaR) ein zugeschnittenes Programm für die Stadt in ihrer ganzen kulturellen Vielfalt.

Laborbedingungen für kreative Prozesse möchte diesen Juli bis August der Darmstädter Architektursommer schaffen. Am Osthang der Mathildenhöhe wird unter der Mitwirkung internationaler Künstler und Architekten über sechs Wochen etwas entstehen, was laut Veranstalter als „Experiment zwischen Kunst, Architektur, Landschaftsgestaltung und Lebenspraxis“ zu verstehen ist. Wir sind gespannt, was der Sommer hervorbringen wird.

 

Oettinger Villa
Open-Air-Filmfest Weiterstadt
Studentischer Filmkreis an der TU Darmstadt e.V.
Schlosskeller
Litfaßsäule
Schlösschen im Prinz-Emil-Garten
Earl Street
Earl Street
Hoffart Theater
Bedroomdisco
Zucker
Kreative Darmstadt e.V.
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Darmstädter Architektursommer