Rinaldo Strauß - Landessprecher der Sinti und RomaFoto: Jan Ehlers
Rinaldo Strauß – Landessprecher der Sinti und RomaFoto: Jan Ehlers

Wer weiß schon, dass Fußballer Gerd Müller, der „Bomber der Nation“, aus einer Familie mit Sinti-Hintergrund kommt? Oder dass die Märchen der Brüder Grimm auf Legenden der Sinti und Roma zurückgehen? Stattdessen beherrschen Vorurteile gegen die Volksgruppe das Meinungsbild – und „Zigeuner“ ist ein häufig missbrauchtes Schimpfwort.

Bettelnde Frauen mit Kopftuch und Kind auf dem Arm gibt es auch in Darmstädter Fußgängerpassagen. Unmittelbar denken dann viele an „Roma-Banden“. Keiner anderen Minderheit wird in der deutschen Öffentlichkeit so unhinterfragt Kriminalität quasi als Wesenseigenschaft zugeschrieben wie den Sinti und Roma. Aus einzelnen Beispielen werden so Stereotype über eine gesamte Volksgruppe. Nur eines dürfen die Sinti und Roma scheinbar nicht sein: so wie alle anderen.

Der hessische Landesverband deutscher Sinti und Roma, der von Darmstadt aus seit über 30 Jahren Bürgerrechtsarbeit macht, versucht, diese Ressentiments zu bekämpfen, und gibt der Minderheit eine Stimme. Für Rinaldo Strauß, den Sprecher des Landesverbands, ist gerade die Gleichstellung ein ganz wichtiger Punkt: „Wir sind genauso verschieden wie der Rest der Gesellschaft. Es gibt musikalische Sinti, aber natürlich auch unmusikalische, gute wie schlechte, dicke wie dünne – es gibt einfach nicht den typischen Sinto.“

Unrühmliche Geschichte Darmstadts

Gegen die Vorurteile kämpft der Verband mit Sitz in der Annastraße seit über drei Jahrzehnten an. Etwas versteckt in einem Bessunger Hinterhof befinden sich die Büroräume. Darmstadt als Sitz des Landesverbands war aber keineswegs ein Zufall, erzählt Josef Behringer, ein Mitarbeiter von Strauß: „Ende der Siebziger Jahre herrschte in der Heinermetropole schon fast eine Pogrom-Stimmung gegen Roma.“ Alles fing mit einem „Musikfest der Zigeuner“ im Jahr 1979 an, das eigentlich versöhnen sollte. Der damalige Oberbürgermeister Sabais lud in seiner Eröffnungsrede ausdrücklich alle Sinti und Roma nach Darmstadt ein. Als diese ihn jedoch beim Wort nahmen und sich knapp 80 Roma in Darmstadt (bei damals schon mehr als 130.000 Einwohnern) niederließen, war die Stadt überfordert und es formierten sich Bürgerinitiativen gegen die Neuankömmlinge. Im Januar 1982 kam es sogar zu einem Bombenanschlag auf eines von den Roma bewohnten Häusern. Statt jedoch die Roma zu schützen, ließ der Nachfolger von Sabais, Oberbürgermeister Günther Metzger, ihre Häuser in ihrer Abwesenheit kurzerhand abreißen und die Roma schließlich rechtswidrig ausweisen. [Einen Hintergrundartikel des Spiegels zu den damaligen Ereignissen findet Ihr HIER!] Das war die Geburtsstunde des hessischen Landesverbands. Ganz vorne mit dabei war Adam Strauß, der ältere Bruder von Rinaldo Strauß.

Foto: Stadt Darmstadt
Foto: Stadt Darmstadt

Vom Vorurteil zum Völkermord

„Zigeuner“ sei kein akzeptabler Begriff, erklärt er, weil es ein Name sei, der den Sinti und Roma von der Mehrheitsgesellschaft gegeben wurde und der negativ besetzt sei. Die richtige Bezeichnung sei entweder Roma für alle Mitglieder der Minderheit („Roma“ bedeutet „Mann“ oder „Mensch“) oder Sinti für die seit fast 600 Jahren in Deutschland beheimateten Roma (der Ursprung des Begriffs ist nicht wirklich geklärt). Ihre Geschichte ist vor allem eine der Ausgrenzung und Verfolgung – und im 20. Jahrhundert des „Porajmos“ (so das Roma-Wort für den Völkermord durch die Deutschen). Auch die Familiengeschichte von Rinaldo Strauß ist geprägt von dieser schrecklichen Zeit. Sein Vater, der aus Marburg stammt, war Auschwitz-Überlebender, seine Mutter war im Internierungslager für Sinti und Roma in Frankfurt inhaftiert. Aber viele haben diese Jahre nicht überlebt, mehr als 500.000 Sinti und Roma wurden wegen ihrer Abstammung von den Deutschen ermordet. In Darmstadt erinnert seit 2004 das Denkzeichen Güterbahnhof (Bismarckstraße/Ecke Kirschenallee) an die mindestens 3.400 deportierten Sinti, Roma und Juden, die von dort aus in die Todeslager geschickt wurden.

Bürgerrechtsbewegung für alle Sinti und Roma

Ein wichtiges Thema für den Verband war von Beginn an die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus. Denn auch nach 1945 ging die Diskriminierung weiter. So wurden Entschädigungsanträge abgelehnt, weil den Verfolgten unterstellt wurde, sie hätten als „Zigeuner“ keinen „einwandfreien Lebenswandel“ geführt. Mitleid für das erlittene Unrecht konnten Sinti und Roma viele Jahrzehnte nicht erwarten. Zum zweiten Mal widerfuhr ihnen dadurch Unrecht, erläutert Behringer. Erst 1982, also fast vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde der Völkermord an den Sinti und Roma offiziell als ein solcher anerkannt. Durch die politische Arbeit des Verbands wurden im Laufe der Achtziger Jahre auch viele der nicht korrekten Entscheidungen über Entschädigung korrigiert. Ein weiterer Erfolg war, dass die Sinti und Roma seit 1995 in Deutschland als nationale Minderheit mit eigener Sprache anerkannt sind. Der Landesverband vertrete zunächst die rund 8.000 deutschen Sinti und Roma in Hessen, erläutert Rinaldo Strauß die Aufgaben. „Aber natürlich können sich alle Sinti und Roma, die Hilfe suchen, an uns wenden“, ergänzt er. Zwar sei nicht jeder hessische Sinti Mitglied des Verbands, aber da auch Sprecher der jeweiligen Großfamilien eingetreten seien, habe man zu fast allen Zugang.

Aufklärung und ihre Grenze

Ein Hauptziel sieht Rinaldo Strauß in der schulischen und außerschulischen Aufklärung über den Antiziganismus, wie die Diskriminierung von Sinti und Roma genannt wird. „Eigentlich wäre dies die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft“, merkt er etwas enttäuscht an. Ein Problem sei, dass der Antiziganismus und insbesondere der Völkermord an den Sinti und Roma keine prüfungsrelevanten Themen in hessischen Schulen seien. „Deshalb ist es für viele Lehrer uninteressant, sich überhaupt damit zu beschäftigen. Wir setzen uns zwar schon seit vielen Jahren für eine Änderung der Lehrpläne ein, aber das Kultusministerium sieht das leider anders.“ Doch auch ohne diese Unterstützung versucht der Verband, über die Verfolgungsgeschichte und die Vorurteile aufzuklären. In den letzten Jahren wurde viel auf die Beine gestellt – und das mit geringen finanziellen Mitteln. So ist es gelungen, die Ausstellung „Hornhaut auf der Seele“ über die Geschichte der Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zu konzipieren und im letzten Jahr unter anderem im Justus-Liebig-Haus in Darmstadt zu zeigen. Außerdem ist mit viel Aufwand eine Medienbox entwickelt worden, die aus einer CD, mehreren DVDs und Lernmaterial besteht und kostenlos an alle Schulen in fünf hessischen Regionen verteilt wurde.

Vorurteile sind hartnäckig

In der Vergangenheit hatte der Landesverband auch Zeitzeugen an hessische Schulen geschickt, um über den deutschen Völkermord an den Sinti und Roma zu berichten. Er selbst möchte aber nicht als eine Art Kuriosität durch die Schulen tingeln, meint Rinaldo Strauß. „Nur weil man einen Sinto trifft, ändern sich noch nicht die Vorurteile über ‚Zigeuner‘. Das macht die Aufklärungsarbeit so schwierig“, ergänzt Behringer. Auch könne nicht ein Sinto für alle sprechen, fügt Strauß hinzu, jeder sei ein Individuum, und was die Sinti und Roma gemeinsam hätten, sei leider vor allem die Jahrhunderte lange Verfolgungsgeschichte.

Die jüngsten Debatten um Einwanderer aus Südosteuropa, die nur nach Deutschland kommen würden, „um die Sozialsysteme auszunutzen“, haben gezeigt, dass auch heute noch die alten Klischeebilder von vermeintlich kriminellen „Zigeunern“ schnell zur Hand und weit verbreitet sind. Daran konnten drei Jahrzehnte Aufklärungsarbeit des Landesverbands leider nichts ändern.

www.sinti-roma-hessen.de

 

Geschichte der Sinti und Roma

Ursprünglich stammen die Vorfahren der heutigen Roma aus dem indischen Subkontinent. Von dort sind sie ab dem fünften Jahrhundert über den Mittleren und Nahen Osten sowie Südosteuropa Richtung Westen gezogen. Spätestens seit dem 15. Jahrhundert haben sie sich auch in Deutschland angesiedelt. Die im deutschen Sprachraum beheimateten Roma nennen sich Sinti und besitzen als anerkannte nationale Minderheit eine eigene Sprache. Diese leitet sich vom Romanes, der Sprache der Roma ab, die Ähnlichkeiten mit indischen Dialekten aufweist, aber auch von anderen Sprachen beeinflusst wurde. Heute leben rund 120.000 Sinti und Roma in Deutschland, 70.000 mit deutscher Staatsbürgerschaft (Quelle: www.planet-wissen.de).

 

Eine aktuelle Untersuchung von Amnesty International zur Diskriminierung von Roma findet Ihr HIER!