Foto: Jan Nouki Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Östlich des schönen Bessungens und südlich der hektischen Innenstadt liegt ein Viertel, das häufig vor Ruhe überhört wird – doch in der liegt bekanntlich die Kraft.

Als Friedrich Pfützer Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge der Gartenstadtbewegung das Paulusviertel für das arbeitende Volk am Reißbrett entwarf, konnte er nicht ahnen, dass heute, 100 Jahre später, daraus eines der luxuriösesten Villenviertel Darmstadts werden würde. Die Gartenstadtbewegung kam ursprünglich in England auf und sollte den schlechten Wohn- und Lebensverhältnissen in den unkontrolliert wachsenden Städten entgegenwirken. Außerhalb der Städte, im Grünen, wurden Wohnsiedlungen für das Proletariat gebaut. An Arbeiterklasse erinnert heute allerdings wenig, wenn man sich auf einen Spaziergang durchs Paulusviertel begibt.

Schmucke Häuser, teure Schlitten und immer noch viel Grün dominieren das Bild, wenn man durch die breiten, wenig befahrenen Straßen schlendert. Kneipen, Bars oder ähnliches sucht man vergebens. Wagt man den Blick in die Fenster, erspäht man nicht selten einen Flügel, eine antike Büste oder zumindest ein Ledersofa, das das eigene um Längen schlägt. Eingebettet in einer besinnlichen Stille läuft das Leben hier in geregelten Bahnen. Nur am oberen Ende der Jahnstraße liegt der große Unruheherd des Viertels: das Studentenwohnheim. Aufgegliedert in drei große Gebäude Altbau, Neubau und altes Polizeipräsidium, bietet es Platz für gut 70 Studenten und den Nachbarn viele Gelegenheiten mit Hilfe der Polizei nächtliche Festivitäten zu unterbinden.

Weiter unten wird die Jahnstraße gekreuzt von einer der schönsten Straßen des Paulusviertels: dem Niebergallweg, einer Platanenallee, benannt nach dem Darmstädter Mundart-Dichter Ernst Elias Niebergall. Der Weg führt den Paulusviertel-Erkunder direkt von der Jahnstraße an den Paulusplatz. Ein kleiner Park mit Bäumen, Grünflächen und in der Mitte ein alter Brunnen, der zwar momentan noch trocken liegt, doch Pläne für die Sanierung sind schon beschlossen. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis am Fuße der Pauluskirche, die übrigens auch von Viertelgründer Pützer entworfen wurde, die Kinder an warmen Sommertagen vergnügt in den Brunnen hüpfen.

Knutschen auf der „Krafts-Ruhe“

Beamte und Schriftsteller scheint es seit je her ins Paulusviertel gezogen zu haben. Man findet neben dem erwähnten Niebergall auch einen Weg, benannt nach Hölderlin, Rielke, Stefan George und den ersten hauptamtlichen Bürgermeister Darmstadts, Albrecht Ohly. Gelebt haben sie zwar alle nicht hier, doch ihnen verdankt das Paulusviertel seinen Spitznamen „Tintenviertel“; in Bezug auf all die Tinte, die hier schon geflossen ist. Dem damaligen Hofgerichtspräsidenten Friedrich Kraft gefiel die Gegend ums Paulusviertel so gut, dass er sich noch vor dessen Gründung, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, auf der hiesigen Kieskaute einen Aussichtspunkt errichten ließ. Auf den großen alten Steinen, dem Rest der ehemaligen Kiesgrube, fand er Ruhe und konnte den Ausblick in Richtung Westen genießen. Noch heute heißt der Ort „Krafts-Ruhe“ und an kalten Wintertagen verleihen ihm seine Abgeschiedenheit und seine knorrig krumm gewachsenen Bäume eine mystische Aura, ruhig und kraftvoll. Der Legende nach soll es hier jedoch in den 90er Jahren nachts – gar nicht mal so leise – „Knutsch-Partys“ gegeben haben. Wenn das der Herr Hofgerichtspräsident Kraft gewusst hätte…