Grafik: Rocky Beach Studio
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Es war ein schöner Julitag des Jahres 2009, und Boris Kolb genoss noch in vollen Zügen seine Rückkehr vom SV Sandhausen zur alten sportlichen Heimat am Böllenfalltor. In solchen glücklichen Momenten fallen schnell Sätze, die erst Hoffnung machen, dann Verpflichtung werden – und später ein Fluch. „Wenn wir taktisch umsetzen, was wir trainieren, werden wir den besten Fußball spielen, den es seit langer Zeit in Darmstadt zu sehen gab“, sagte der neue Mannschaftskapitän der „Lilien“ damals – und ist im Januar 2010, beim Neujahrsempfang des SV Darmstadt 98, etwas erschrocken, als er mit dieser Verheißung konfrontiert wurde.

Kolbs Reaktion war verständlich, denn vom erhofften Qualitätsfußball sind die „Lilien“ wieder einmal weit entfernt. Als Tabellenfünfzehnter trennen die Mannschaft (bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe) zwei Punkte vor dem ersten Abstiegsplatz in die Hessenliga, der fünfthöchsten deutschen Spielkasse. Wer dem Neujahrsempfang beiwohnen durfte, erlebte eine Veranstaltung, die getragen wurde von Visionen, die mutig klingen – und das ist angesichts der sportlichen Lage noch vorsichtig formuliert. Wenn eine Mannschaft in der vorigen Saison nur mit Ach und Weh den Verbleib in der Regionalliga schafft und nun trotz einiger personeller Verstärkungen abermals gegen den Abstieg kämpft, dann klingen die Worte von Darmstadts Oberbürgermeister Walter Hoffmann, als befände sich dieser auf einem anderen Planeten: „Mindestens dritte Liga“ müsse das Ziel für den SV Darmstadt 98 sein, sagte der erste Mann der Stadt. Mindestens! Du lieber Himmel.

„Eine positive Überraschung“ wolle man in dieser Saison sein, hatte „Lilien“-Trainer Zivojin Juskic vor dem Rundenstart formuliert – was im Wortsinn funkelnder Unfug ist. Eine Überraschung mit Ansage ist ja keine mehr. Wohl zur Strafe hat dann das Schicksal Regie geführt und als echte Überraschung den schlechtesten Saisonstart der „Lilien“ seit Mitte der neunziger Jahre beschert.

Vereinspräsident Hans Kessler hat schon Recht, wenn er sagt, dass die Regionalliga eine Spielklasse ist, „die wenig Spaß macht“ und für die „Lilien“ auf Dauer nicht seriös zu finanzieren ist. Also raus. Nur, wohin? Für ein Team, das sich für Liga drei bewerben will, benötigt der Verein mindestens eine Verdopplung des bisherigen Etats für den Spielbetrieb. In der Summe also rund 1,6 Millionen Euro. Wo soll dieses Geld herkommen? Und selbst wenn – sind auch die Strukturen im Verein wirklich auf höherklassigen Fußball vorbereitet? Noch im Spätherbst des Jahres 2009 hatte Kessler deswegen seinen Plan B formuliert, der ebenfalls das Verlassen der Regionalliga vorsieht – nur in eine andere Richtung: „Ich habe kein Problem damit, dem Verein die Oberliga zu verordnen.“ Hopp oder top, ganz oder gar nicht.

Ob Kessler tatsächlich die Härte hat, die „Lilien“ in Liga fünf zu verorten, ist freilich fraglich. Die Fans würden einen Orkan der Entrüstung erzeugen – und das wäre nur verständlich. Wer, um die Insolvenz zu vermeiden, eine halbe Million Euro Spendengelder sammelt, Musik festivals organisiert, Sternmarsch und, und, und, der will wenigstens in der Regionalliga die Illusion von Profifußball geboten bekommen.

Doch Kessler ist kein Mann des Fußballs, er ist ein Mann von Businessplänen und für das Sanieren (oder Abwickeln) von maroden Wirtschaftsbetrieben. So gesehen, hat er am Böllenfalltor einen sauberen Job erledigt. Die Bücher stimmen, alle Steuern werden nun bezahlt, die kurzfristigen Verbindlichkeiten wurden eingedampft. Kessler hat genau das erledigt, wofür ihm 2008 der Weg zum Amt des Präsidenten geebnet wurde – und er könnte deswegen mit ruhigem Gewissen in diesem Jahr zurücktreten. Was ja nicht ausgeschlossen ist, sollte es nichts werden mit dem „Projekt dritte Liga“.

Dritte Liga, das ist schon recht großer Fußball, und Boris Kolb hat beim SV Sandhausen erleben können, was es heißt, hier mitzuspielen. Dort heißen die Gegner nicht mehr Bamberg, Sonnenhof Großaspach oder Alzenau, sondern Eintracht Braunschweig, Dynamo Dresden oder Kickers Offenbach. „Mittelfristig müssen solche Mannschaften auch nach Darmstadt kommen“, sagte der „Lilien“-Kapitän als der Sommer warm war, Kolbs Optimismus groß und Zivojin Juskic wenigstens bei den Verantwortungsträgern im Verein als Trainerhoffnung galt.

Im Frühjahr 2010 ist von alledem nicht mehr viel übrig geblieben, von der sagenhaften Aufbruchstimmung des  Insolvenzvermeidungskampfes ganz zu schweigen. Braunschweig und Dresden sind weit weg von Darmstadt, die Hessenligaklubs aus Urberach, Eschborn und Klein-Karben liegen näher. In jeder Hinsicht.