Illustrationen: Daniel Wiesen

Anschnallen, wir reisen in die Zukunft und denken Darmstadt nachhaltiger, sozialer und kreativer. Diesmal: das Stadtzentrum. Das P zeigt, was geht und vor allem: dass es geht! Denn was in Darmstadt noch Zukunftsmusik ist, ist andernorts längst Gegenwart.

I) Das Hier-und-Dann: 
Löten im MakeDonald’s

Wir schließen die Augen und stellen uns vor, es sei Zukunft in Darmstadt. Wir stehen in der Innenstadt auf dem Ludwigsplatz. Hinter uns der Bismarck-Brunnen. Es ist Abend, längst dunkel, aber im MakeDonald’s brennt noch Licht. Vor wenigen Jahren noch trafen sich hier Kids auf Cheeseburger und Milkshake. Jetzt sitzen Darmstädter:innen allen Alters im Makercafé, löten Laptops, schrauben am kaputten Toaster, bauen, trinken Brause. Tagsüber lümmeln Jung und Alt auf dem Ludwigsplatz auf selbst gebauten Lounge-Möbeln herum, DIY-Ecken laden Passant:innen zum Mitmachen ein. Passant:innen, die nicht mehr nur zum Shoppen in die Innenstadt kommen. Denn der MakeDonald’s im ehemaligen Fast-Food-Restaurant ist einer von vielen Orten im Zentrum, die jetzt kreativ zwischengenutzt werden.

Nachdem im Zuge der Corona-Krise immer mehr Ladengeschäfte in der Innenstadt aufgeben mussten, gründet Darmstadt eine Agentur für Leerstand und nennt sie Lücke. Lücke hat den Überblick über alle Leerstände der Stadt. Lücke vermittelt zwischen Immobilienbesitzer:innen und Menschen mit guten Konzepten. Lücke ist zentrale Anlaufstelle für die temporäre Nutzungen von Leerstand und vermarktet dezentrale Zwischennutzungskonzepte zentral. „Lückenfüller“ sind längst nicht mehr nur Kunstgalerien auf Zeit. Im einstigen Schuhgeschäft ist heute ein Zukunftslabor zu Hause, in dem Bürger:innen das Darmstadt von morgen gestalten. Aus dem einstigen Pali-Kino ist das „Paliment” geworden, in dem sich Bürger:innen zu Vorträgen und Konferenzen treffen. Es gibt kleine Pop-up-Küchen, in denen junge Gastronom:innen neue Konzepte ausprobieren und sich Freund:innen an langen Tischen zum Abendessen treffen.

Die Innenstadt ist bunt geworden. Die Geschäfte links und rechts profitieren vom Reiz des ständig Neuen.

 

II) Das Jetzt-und-Dort: „BLANK“ in Jena

Von der Zukunft in die Gegenwart. Von Darmstadt nach Jena. Mit 111.000 Einwohner:innen ist die Stadt in Thüringen ein wenig kleiner als unsere Wissenschaftsstadt – aber der Druck auf dem Immobilienmarkt ist ähnlich hoch. „Zu wenig Leerstand ist ein Problem für die Entwicklung einer Stadt”, weiß Katrin Hitziggrad. Sie begleitet Transformationsprozesse im Bereich Stadt/Land. In Jena initiierte sie „BLANK“, eine Agentur für Zwischennutzung, die die Leerstände der Stadt zentral koordiniert und an Bewerber:innen mit passenden Konzepten vermittelt. „Aus der Zivilgesellschaft kommen kreativere Ideen, eine Immobilie zu nutzen, weil sie nicht nur mit einem kommerziellen Blick auf sie schaut. Diese Akteure haben aber aktuell keinen Platz am Tisch, wenn Flächen vergeben werden.” Die Agentur „BLANK“ ändert das und ist Vermittlerin zwischen Stadt, Immobilienbesitzer:innen und Menschen mit alternativen Nutzungskonzepten.

Aber was ist Zwischennutzung genau? Zwischennutzung bedeutet, dass eine Immobilie nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, weil sie irgendwann abgerissen oder anders genutzt werden soll. Ohne sinnvolle Koordination stehen solche Immobilien solange einfach leer. Doch vor allem in der Innenstadt ist das eine vergebene Chance.

„Zwischennutzung ist ein Wirtschafts-Booster”, erklärt Katrin. „Sie vermeidet leere Schaufenster und gibt kleineren Akteuren die Möglichkeit, ihr Konzept in einem geschützten Rahmen auszuprobieren und im Anschluss mit ihren Erfahrungen durchzustarten.” Viele kleinere Labels, Start-ups oder Gastronom:innen könnten sich weder die Innenstadtmieten leisten, noch kämen sie mit einem neuen Geschäftsmodell für die üblichen Mietverträge mit fünf Jahren Laufzeit infrage. Bekommen sie nun die Chance, ihr Business zum Leben zu erwecken und zu beweisen, dass es sich tragen kann, haben sie eine andere Verhandlungsgrundlage für eine dauerhafte Fläche.

Zwischennutzung funktioniert also auch abseits von Kunstgalerien und Ateliers? „Auf jeden Fall”, sagt Katrin Hitziggrad. „Gemeinwohlorientierte Nutzungsvielfalt wertet die Innenstadt auf und macht sie resilienter. Der Konsum ist nicht mehr der einzige Besuchsgrund und die Innenstadt ist auch nach Ladenschluss noch attraktiv.” Bildung, Begegnung, Handwerk, Gastronomie, Co-Working, Kultur – das Inner-City-Leben ist um einiges vielfältiger.

Illustrationen: Daniel Wiesen

III) Das Bald-auch-Hier: Zwischennutzung in Darmstadts Zentrum

Eine Agentur für Zwischennutzung wie „BLANK“ in Jena gibt es in Darmstadt bislang nicht. Erste Schritte in diese Richtung gibt es aber schon. Vera Freund von Darmstadt Marketing und Anke Jansen von Darmstadt Citymarketing erzählen im Gespräch von ihrer Initiative „einLADENd“. Mit mehr Leerstand rechnend rief man zu Beginn der Pandemie die Kunst- und Kulturschaffenden der Stadt auf, Konzepte für Schaufenster und leer stehende Ladenflächen einzureichen. Mehr als 80 Kreative meldeten sich. „Wir hätten ohne Probleme ein Jahr lang ein großartiges Programm machen können,“ sagt Vera Freund. Kein Wunder, denn die Flächenkonkurrenz unter Darmstadts Kreativen ist hoch. Wenngleich die Initiative wegen des zweiten Lockdowns und weniger Leerständen als befürchtet erst mal gestoppt wurde, sehen beide Corona als Chance für Darmstadts Mitte.

Zurzeit gibt es etwa 30 Leerstände in der Innenstadt – jahreszeitentypisch etwas mehr als im Sommer. „Auffällig ist, dass die Openings und Closings im Vergleich zu vor der Pandemie in kürzeren Abständen erfolgen“, sagt Vera Freund. Zudem sinken die Mieten, was Konzepte „innenstadtfähig“ macht, die es vorher nicht waren.

Wenn sie auf die Zukunft der Innenstadt angesprochen wird, bleibt Anke Jansen realistisch: „Der Boden geht immer noch zum besten Wirt.“ Sie spricht aber auch von Transformation, von neuen Chancen für „City Newcomer”, von Kultur als Partner statt Lückenfüller, von neuen Begegnungsräumen in der Innenstadt. Diese geht das Stadtmarketing ganz konkret an – in Kistenform: „Mit den Kulturkisten, kleinen mobilen Bühnen, können im Sommer spontan wechselnde Plätze bespielt werden”, erzählt Vera Freund.

Große Hoffnungen in Sachen Transformation setzen beide in das jüngst von der Stadt Darmstadt beauftragte und mit der namhaften Agentur Urbanista aus Hamburg in der Umsetzung befindliche Entwicklungskonzept zur Zukunft der Innenstadt. Teil des Konzepts soll auch ein aktives Ladenflächen-Management sein. Und das wiederum könnte die Chance für eine Agentur für Zwischennutzung sein.

Gefragt nach dem derzeit spannendsten Leerstand der Stadt, sind sich beide einig. Da das Bürger- und Ordnungsamt ins Luisencenter umgezogen ist – übrigens auch ein Beispiel neuer Nutzung von einstigen Ladenflächen – stellt sich die Frage, wie das Stadthaus in der neu gestalteten Grafenstraße künftig genutzt wird? Hier ist es an der Stadt selbst, Mut in der Lücke zu zeigen. Ein wuseliger Co-Working-Space? Art im Amt? Studios für die Youtuber:innen, Podcaster:innen und Tiktoker:innen dieser Stadt? Na, Darmstadt, wie wär’s?

 

Kooperative Stadt

Der Bundespreis „Koop.Stadt“ zeichnet Städte aus, die kooperative Stadtentwicklung aktiv fördern. Zum Beispiel das „Freiraumbüro” als städtisches Kompetenzzentrum der Stadt Halle, das die Suche nach Freiräumen und deren Aktivierung für gemeinwohlorientiert-kreative Nutzungen zentral bündelt. Oder der digitale Raumkompass aus Nürnberg, der Kunst- und Kulturschaffende mit Möglichkeitsräumen verbindet – ein städtisches Sonderprogramm für Nachbarschaftsideen macht’s möglich. Die Preisträger:innen zeigen, was alles geht.

koop-stadt.de

 


Massif Central und „lulu“


Zwei fancy Zwischennutzungsprojekte kannst Du ganz in der Nähe besuchen. Das Massif Central in einer zum Abriss freigegebenen Frankfurter Druckerei ist ein wilder Mix aus Kiosk, Galerie, Szene-Bar, Fahrradwerkstatt, Kantine und Showroom. Das Erlebnis-Kaufhaus „lulu“ im ehemaligen Karstadt auf der Mainzer „Lu“ ist Verkaufsfläche für lokale Labels und Ausstellungsfläche für zeitgenössische Kunst – zuletzt waren eine Banksy-Ausstellung und die Galerie Gutleut zu Gast.

massifcentral.rocks und lulu-mainz.de

 

Architects for Future

Komm mit uns spazieren! Am Donnerstag, 19. Mai, um 17 Uhr lädt die Darmstädter Ortsgruppe der Architects for Future zu einem utopischen Stadtspaziergang durch die Darmstädter Innenstadt ein (Treffpunkt: am Ludwigsplatz). Mitspazieren werden Leerstandsexpertin Katrin Hitziggrad („BLANK“, Jena) sowie Vera Freund (Darmstadt Marketing GmbH) und Anke Jansen (Citymarketing e. V.). „Wie sieht ein Stadtzentrum für alle aus?“, ist die Frage, der sie sich im Gehen mit verschiedenen Methoden des Future Thinkings nähern wollen.

instagram.com/architects4future_da

 

Anna und Tobi haben Lust auf Stadt mit Zukunft!

Wir sind Anna Groos und Tobias Reitz. Einst schrieben wir hier im P Stadtkulturmagazin über unsere Küchenexperimente („Iss was!“). Heute experimentieren wir beruflich wie privat mit der Zukunft von Leben und Arbeit. Eines dieser Experimente führte uns 2021 ins nordhessische Homberg (Efze), wo wir mit 20 anderen Klein- und Großstädter:innen Co-Living und Co-Working auf dem Land testeten. Jetzt sind wir zurück in Darmstadt und haben richtig Lust auf Stadt mit Zukunft.