Was vielen nicht bekannt sein dürfte: Mitten in Darmstadt lebt und arbeitet seit vielen Jahren ein Schwergewicht der Electro-Cumbia-/Global-Bass-Szene: Andrés Digital. Der gebürtige Pfungstädter ist – neben DJ und Produzent – auch Labelbetreiber und Blogger. Und er hat sich nicht zuletzt durch das szenebekannte Blog „TropicalBass.com“, in dem er regelmäßig alle relevanten Releases aus dem Genre in seiner Serie „Cumbia Round Up“ vorstellte, einen Namen gemacht. Sein Output umfasst mittlerweile zahllose Alben und EPs, welche er vorwiegend auf seinem eigenen, gleichnamigen Label Tropical Bass veröffentlicht. Einzeltracks und Remixe wurden unter anderem auf einschlägigen Compilations beziehungsweise Labels wie zum Beispiel „Cassette Exclusivos“, „Kumbale“, „Frente Bolivarista“, „Sello Regional“ oder „Hawaii Bonsai“ veröffentlicht.
Andrés Digital ist vorwiegend vom mexikanischen Raum beeinflusst, wo er auch wirkt. Das macht sich unter anderem in der Bildsprache seiner Cover bemerkbar: Die Logos und Bilder zeigen oft Zitate des mexikanischen Wrestlings, des „Lucha Libre“. Zudem ist der Darmstädter Teil der mexikanisch-deutschen Formation „Original Son del Barrio“ (O.S.D.B.). Als DJ bespielte er – neben vielen Orten des mittelamerikanischen/mexikanischen Raums – auch Metropolen wie Los Angeles, San Francisco, Amsterdam, Berlin, Paris, Barcelona, Panama City, Rom, Brüssel oder London. Wir treffen uns zum Blackbox-Interview in Andrés Heimstudio gegenüber der Oetinger Villa am Bürgerpark.
Andrés, Du bist Producer, Labelbetreiber und Blogger … stimmt das so noch?
Andrés: Das meiste davon stimmt noch, wobei einige Bereiche aktiver sind als andere. Seit Corona bin ich eigentlich nicht mehr am Touren und Auflegen, dafür aber weiterhin sehr aktiv am Produzieren. Meine regelmäßige Serie „Cumbia Round Up“ meines Blogs „Tropical Bass“ erforderte immer viel monatliche Zuwendung, weswegen das leider erst mal aus Zeitgründen auf Eis liegt. Darin kuratierte ich 45-minütige Podcasts, in denen ich aktuelle Release der Szene zusammengemixt und vorgestellt habe. Die Radioshow hatte durchaus Reichweite und lief auch „on air“ auf einschlägigen Internetradiosendern, insbesondere im spanisch sprechenden Raum wie Süd- oder Mittelamerika und natürlich in Spanien selbst.
Wie ist Deine Produktionsweise?
Ich produziere hauptsächlich Cumbia beziehungsweise Electro-Cumbia – samt diverser Unterkategorien, wie „Digitale Cumbia“, „Rebajada“ oder „Reggae Cumbia“. Bei der „Rebajada“ wird die Cumbia teilweise stark runtergepitcht, manchmal auch nur der Gesang, und es entsteht dieser langsam schleppende Groove mit tiefer Stimme. Ich programmiere seit mehr als 20 Jahren Beats am Computer. Dazu spiele ich auch immer selbst Instrumente ein oder greife hier in Darmstadt oder auch über mein Internet-Netzwerk auf Musiker zu, die dann Parts einspielen oder einsingen.
„Ich habe schon immer Gitarre gespielt. Zunächst in Punk- und Gothicbands.“
Würdest Du Dich musikalisch dem Genre Global Bass zuordnen?
Ja und nein. An sich bediene ich ja nur einen Teil dieser Strömung und das auch vorwiegend bis ausschließlich aus dem lateinamerikanischen Raum. Aber richtig ist, dass ich ein Teil dieser Sound-Familie bin beziehungsweise sich die Leute und Netzwerke schon über den ganzen Globus erstrecken und ich beispielsweise auch mit Produzenten in Japan oder Australien connectet bin. Die Versuche, Musik über die Genrebegriffe zu definieren beziehungsweise einzugrenzen, sind am Ende immer schwierig und ungenau.
Wie kamst Du zu Cumbia und Global Bass?
Ich habe schon immer Gitarre gespielt. Zunächst in Punk- und Gothicbands. Anschließend kam ich mehr mit der akustischen Gitarre in Berührung und habe eine längere Zeit Flamenco gespielt, unter anderem eine Zeit lang in Sevilla. Dort habe ich auch von einschlägigen Gitarristen gelernt und mit ihnen zusammengespielt, aber auch mit unterschiedlichen Formationen hier in Darmstadt. Später bin ich dann bei Reggae, Ragga Dancehall gelandet. Dieser ließ sich gut mit dem aufkommenden Cumbia kombinieren, welcher dann unweigerlich mit der Global-Bass-Szene verbandelt war. Mit meiner damaligen Reggae-Band [den Radikal Sunflowers] habe ich Anfang der 2000er über zehn Jahre Musik gemacht, als Beat Producer, Gitarrist und auch als Sänger sowie entsprechende Partys veranstaltet, zum Beispiel in der Bessunger Knabenschule, aber auch für etwa zwei Jahre im Schlosskeller. So um 2010 habe ich dann als Andrés Digital Electro-Cumbia-Produktionen veröffentlicht und bin seitdem als DJ und Producer in dem Bereich bis heute unterwegs.
Wer waren starke musikalische Einflüsse in dem Bereich und außerhalb – damals und heute? Wen oder was feierst Du zur Zeit innerhalb und außerhalb der Szene?
Also Mitauslöser für meine Cumbia-Liebe war sicherlich die Compilation „Cumbia Cumbia“ auf World Circuit aus dem Jahre 2012, auf der wirklich alle möglichen Klassiker der Discos-Fuentes-Ära verewigt sind. Nachdem ich dann die ersten Electro-Cumbia-Produktionen von „El Hijo de la Cumbia“ oder „Uproot Andy“ hörte, habe ich selbst angefangen Reggae und Cumbia zu vermischen und Mash-ups zu produzieren. Einen weiteren großen Einfluss hatte Celso Piña, Akkordeonspieler aus Monterrey, Mexico. Beim Reggae/Dancehall zuvor waren das insbesondere Eek-a-Mouse, LKJ aber auch Sean Paul, Seeed oder Gentleman, also eher auch Vertreter der damaligen Zeit um die Jahrtausendwende. Damals konnte man auch jedes Wochenende auf Dancehall-Partys gehen. Beim Flamenco waren die Einflüsse natürlich die großen Gitarristen wie Paco de Lucía oder Vicente Amigo. Durch meine Bloggerpause seit Corona hatte ich das erste Mal wieder richtig Zeit und Raum, verstärkt andere Musik hören zu können. Teils wieder alte Sachen von früher, von Punk bis Dub, aber auch jetzt höre ich breit gefächert: Von Drum’n’Bass über Jazz zu Brasil ist da alles dabei. Gerade höre ich auch gerne das neueste, sehr reggaelastige „Manu Chao“-Album.
Deine Musik und das Artwork sind sehr mit der mittelamerikanischen/mexikanischen Kultur verwoben. Nicht nur ich hatte zunächst den Eindruck, Du seist Mexikaner. In Deiner Gigliste stehen viele mexikanische Venues und du bist auch Teil der Gruppe „Original Son del Barrio“ (O.S.D.B.). Wie kommt dieser Bezug zu Mexiko?
Das hat sich damals einfach alles so ergeben. Durch meine Produktionen, vor allem meinem Mash-up von Dawn Penns „No No No“, der seinerzeit ziemlich durch die Decke ging, sowie einem einschlägigen Mixtape war ich in der Electro-Cumbia-Szene bereits bekannt. Daraufhin erfolgte irgendwann eine Anfrage aus Mexiko, ob ich dort touren wolle und dann habe ich das natürlich gemacht und seitdem ist der starke Kontakt dahin geblieben. Unter anderem haben mich aber auch die Mariachis, also die folkloristischen Musiker und Gitarrenspieler dort, schon immer fasziniert.
Wie würdest Du den Sound von O.S.D.B. beschreiben? Was ist Deine Rolle dort? Wie haltet Ihr Kontakt? Wie kam das zustande?
Bei dem Projekt O.S.D.B. sind wir zu zweit, und das gibt es seit etwa 2017/18. Der Sound ist genau wie die meisten meiner sonstigen Produktionen hauptsächlich Electro-Cumbia und Reggae, hier noch mehr mit HipHop-Anteilen. Dabei produziere ich quasi das ganze Album, nicht nur die Beats samt der Gitarrenriffs, sondern übernehme auch die ganze Koordination der Realisierung des Albums. Mein Bandkollege aus Monterrey, Angel Perez, kümmert sich vorrangig um die Vocals.
Du hast bereits viel auf Deinem gleichnamigen Label releast. Wird es dort weitergehen? Wie sehen Deine derzeitigen und zukünftigen Projekte aus?
Bei O.S.D.B. arbeiten wir weiterhin an neuen Songs, aber ohne konkreten nächsten Release-Termin. Das Album „Tropical Gueto“ ist ja gerade 2023 erschienen. Wir wollen auch auf Tour gehen, aber das ist noch nicht konkret. Das neue Andrés-Digital-Album „Edits & Remixes“ kommt jetzt im Mai auf Hawaii Bonsai [Global-Bass-Label aus der Schweiz] raus, vorrangig sind da unveröffentlichte Tracks aus den letzten Jahren drauf. Auf meinem Label Tropical Bass wird bald eine Kollaboration mit dem jamaikanischen Künstler „Str8WH“ aus Kingston herauskommen: Das wird eine EP mit zwei Tracks plus Remixen dazu, alle aus unterschiedlichen Facetten des Global-Bass-Bereichs wie Salsa, House, Soca oder auch Drum’n’Bass. Ende des Jahres plane ich eine Vinyl auf meinem Label mit Andrés-Digital-Klassikern – unter anderem mit dem bereits erwähnten „No, No, No“, mittlerweile ein Klassiker des Reggae-Cumbia-Mash-up.
Kannst Du vom Produzieren leben?
Nein. Hauptberuflich spiele ich mittlerweile an einem lokalen Theater. Das Geld, das über die Musik reinkommt, investiere ich vorwiegend in die nächsten Produktionen und mache damit dann auch gerne Liebhabereien wie Vinyl-Releases in kleinen Auflagen – so was lohnt sich wirtschaftlich nie. Auch Gema- oder Streaming-Einnahmen sind leider für die meisten Künstler in den Nischen nicht relevant.
Wie ist die Situation der Szene, auf Partys und in Clubs in Darmstadt und im Umkreis? Veranstaltest Du noch, gibt es Pläne? Wie geht’s der Global-Bass-Szene und wo geht die Reise hin?
Ich habe zur Zeit keine öffentliche Partyreihe. Auch haben in meiner Wahrnehmung die Partys im Bereich Reggae, Ragga, Dancehall sowohl in Darmstadt als auch in anderen Städten stark abgenommen [lokale Ausnahme: der Rossdörfer Biergarten], von anderen Bereichen des Global Bass ganz zu schweigen. Am ehesten noch in den großen Städten wie Hamburg, Berlin, Köln oder Dresden. Aber immerhin gibt es welche. Die Szene hier ist überschaubar, da kennt man sich. Cumbia als Musik mit sehr starkem folkloristischen Fundament wird es ewig geben und ich möchte dem Bereich weiterhin erhalten bleiben. Die Musik ist ja wie bei allen anderem einem ständigen Einfluss und Veränderung unterworfen. Da weiß keiner, was das nächste große Ding wird – aber es wird sicherlich eins kommen.
Vielen Dank für das Gespräch. [Wir freuen uns schon auf den Heinerfest-Montag uff de Piazza mit Dir!]
Andrés Digital: aktuelle Veröffentlichungen
Andrés Digital: „Edits & Remixes“ (Mai 2024), Label: Hawai Bonsai
Andrés Digital: „Sigue La Lucha“ (2021), Label: Tropical Bass
Andrés Digital: „Sigue La Guaracha – the Art of Remix“ (2021), Label: Tropical Bass
O.S.D.B.: „Tropical Gueto“ (2023), Label: Tropical Bass
O.S.D.B.: „Tropical Gueto (Remixes)“ (2023), Label: Hawai Bonsai
andresdigitaloficial.blogspot.com
instagram.com/andres_digitaloriginal
Global Bass – ein Definitionsversuch
Global Bass oder Tropical Bass ist ein nicht abschließend definierter Sammelbegriff für elektronische und basslastig angereicherte Genres, welche Musikströmungen aus verschiedensten vorrangig gebrochenen Rhythmen wie dem mittel- und südamerikanischen Cumbia, Reggaeton oder Dembow, aber auch dem karibischen Dancehall oder Calypso, brasilianischen Baile Funk oder den afrikanischen Kuduro oder Afro House, osteuropäischen Balkanbeats sowie Moombathon und Trap-Elementen vereint.
Beeinflusst durch elektronische Tanzmusik sind diese teils folkloristischen Elemente durch zeitgemäße Produktionstechniken, Remixe, Edits und Mash-ups in einen modernen und hoch energetischen Musikstil weiterentwickelt worden, der in vielen Bereichen den angestaubten Begriff von World Music in einen zeitgemäßen Mantel packt. Mit diesem Ausdruck – und in der auch musikalisch längst globalisierten Welt – hat sich Global Bass in die popkulturelle DNA geschrieben und findet seine Zitate und Anwendungen in bekannten Produktionen, wie zum Beispiel bei Diplo (Majo Lazer), M.I.A. oder Burakka Som Systema.
Die – wie der Genre-Titel bereits vermuten lässt – teils recht basslastigen Produktionen wirken dabei bereits bei niedrigen Geschwindigkeiten im Bereich 80 bis 100 Bpm [Beats per minute] temporeich und energetisch, was nicht zuletzt den komplexen Rhythmusstrukturen sowie der häufigen Betonung des Off-Beats – ähnlich wie bei Reggae, Swing, Rock’n’Roll oder Polka – geschuldet ist.