Foto: Martinus Boll

Es wird wärmer, doch das kulturelle Leben ist weitgehend eingefroren. In Zeiten der Pandemie richten wir unseren Blick zurück auf musikalische Entwicklungen der letzten 70 Jahre in Darmstadt, die ähnlich viral gingen wie Covid 19. Gösta Gantner wird einige Sternstunden der Darmstädter Sub- und Popkulturszene aufleben lassen.

Die 1960er-Jahre – welch ein Jahrzehnt! Sagt sich so leicht, besonders für diejenigen, die erst reichlich später das Licht der Welt erblickten. Auch ich kann nur ahnen, mit welch imposanten Freiheitsversprechen man in dieser Zeit den Kinderschuhen entsprang, wie es sich angefühlt haben mag, selbst zur E-Gitarre zu greifen oder vor der Bühne von einem Sound elektrisiert zu werden, den man damals als „Beat“ bezeichnete. Was da über die Kids hinwegrollte, dürfte mitreißender als alles bisher Gehörte und Gelebte gewesen sein. Man denke nur an die Euphorie, welche die Beatles ausgelöst haben. „Beat“ kann in gewisser Weise als Urform derjenigen Pop-und Subkultur gelten, die fortan auch in Darmstadt immer beliebter und sozioökonomisch bedeutsamer wurde.

Doch gehen wir einen Schritt zurück. In Westdeutschland leiteten die Besatzungsmächte in den 1950er-Jahren einen Liberalisierungsprozess ein, der einen vielschichtigen Kulturtransfer umfasste und auch die musikalischen Präferenzen sowie Lebensstile der heranwachsenden Nachkriegsgeneration nachhaltig prägen sollte. Das trifft in besonderem Maße auf eine Stadt wie Darmstadt zu, in der bis zu 11.000 US-Soldaten stationiert waren. Hörgewohnheiten ändern sich aber nur langsam. Der Durchbruch von Rock’n’Roll, Soul und Beat vollzog sich erst in den Sechzigern. Neben Kinofilmen, Radiosendern und Clubs waren Tanzschulen, in Darmstadt etwa die bis heute bestehende Tanzschule Bäulke, daran maßgeblich beteiligt. Musik war ein kostspieliges Hobby. Die verbesserten Einkommensverhältnisse in der sogenannten „Wirtschaftswunderzeit“ ermöglichten häufigere Konzertbesuche, den Kauf von Tonträgern und Instrumenten. Rock’n’Roll und Beatmusik wurden in Darmstadt seit Beginn der 1960er-Jahre von Coverbands junger, männlicher Erwachsener aus dem Angestellten- und Arbeitermilieu gespielt. Nur wenige Gymnasiasten und Studenten waren anfänglich aktiv, was sich aber Mitte der Sechziger Jahre änderte, wie Martinus Boll in seinem Buch „Beat und Rock in Darmstadt 1960–1975“ dokumentiert.

 

Foto: Martinus Boll

„Beat“ begann als reine Unterhaltungsmusik ohne große musikalische Ambitionen. Mitte der 1960er-Jahre wurden nicht mehr nur Chart-Hits interpretiert, sondern auch weniger bekannte Album-Titel nachgespielt. Das Equipment und der musikalische Anspruch an das eigene Schaffen wuchs. Zur klassischen Besetzung Gitarre(n), Bass, Schlagzeug und Gesang kam unter anderem die Orgel hinzu. Umgebaute Wohnzimmerverstärker der Eltern wurden durch professionellere Instrumente und Veranstaltungstechnik ersetzt. Die Anzahl der Beatbands in Darmstadt und Umgebung in den 1960er-Jahren wird von Martinus Boll auf 60 bis 70 Gruppen geschätzt. Zu den populären Beatbands zählten The Pralins und Springflute. Letztere spielen bis heute noch gelegentlich auf. Auch die Clouds, Flintstone Family, Guardians, Rovers Ltd. und FBI Guitars gehörten zu den bekannteren Darmstädter Kapellen, die zwar auch Selbstkompositionen im Repertoire hatten, sie aber zumeist nicht spielten, da das Publikum nahezu ausschließlich Hits von populären britischen und amerikanischen Gruppen hören wollte.

Die US-Clubs gelten als Keimzelle des Beat, er wurde aber unter anderem auch im Starclub (Magdalenenstraße), der Goldenen Krone, „Bei Hanno“ (später „Das Brett“ in der Stauffenbergstraße), im Underground (Wilhelm-Leuschner-Straße), auf Schulbällen und in Tanzschulen abgefeiert. Bereits 1958 eröffnete das evangelische Jugendhaus „huette“ (oftmals auch „Hütte“ geschrieben) in der Kiesstraße, in dem auch Partys und Konzerte stattfanden. Ab 1966 gab es erste Beat-Großveranstaltungen in der Stadthalle (heute: gemeinsame Sporthalle der Justus-Liebig-Schule und Eleonorenschule), in der Otto-Berndt-Halle (heute: Mensa Stadtmitte) und der Bessunger Turnhalle (heute: Comedy Hall). Vereinzelt fanden auch Open-Air-Veranstaltungen, etwa im Herrngarten oder am Steinbrücker Teich, statt. Zeitgleich wurde der Schlosskeller, bis heute betrieben vom AStA der TU Darmstadt, als neuer studentischer Aufenthalts- und künstlerischer Aufführungsort eröffnet.

 

Foto: Martinus Boll

Das Beatmilieu galt zumindest in Teilen als nonkonformistisch. Die männliche Anhängerschaft wurde mit Imponiergehabe und wenig zielführender Gewalt in Verbindung gebracht. So kam es beispielsweise zu Ausschreitungen um ein Beatkonzert mit Tony Sheridan und The Kinks am 13. Oktober 1965 in der Darmstädter Stadthalle mit 800 Gästen. In der Stadthalle gingen Teile der Wandverkleidung, Fenster und Türen zu Bruch, bei Ankunft der Polizei ertönten, so der Korrespondent der Hanauer Zeitung, „schrille Pfiffe“. Vor der Halle wurde vorsorglich ein Wasserwerfer positioniert. Hier versammelten sich zusätzlich 600 Jugendliche „im Alter zwischen 7 und 20 Jahren“, um vergebens Einlass zu verlangen. Sie randalierten anschließend auf dem benachbarten Schulgelände und warfen Steine auf Polizisten, konnten aber mit „Lautsprecher-Durchsagen der Polizei […] zur Vernunft gebracht werden“. Nach dem Konzert kam es noch zu Sachbeschädigungen im gesamten Stadtgebiet, acht Festnahmen wurden verzeichnet.

Solch ein Aufstand in Darmstadt ist aus heutiger Sicht eher ungewöhnlich – selbst die Chaostage der Punks in den 1990er-Jahren liegen schon 25 Jahre zurück. Sie fühlen sich an wie ein Grollen aus fernen Zeiten. Demgegenüber wirkt es für uns aktuell fast schon obszön, in einem Raum mit 800 anderen Menschen rhythmisch die Körper zu bewegen und euphorisch dem Geschrammel auf der Bühne zu folgen. Wie lange werden wir uns noch in Verzicht üben können? Wann beginnen die Corona-Riots?

 

Gut recherchierte Darmstädter Kulturgeschichte

„Von Beat bis Eurodance – Die Rock- und Popszene am Woog“: So ist das Kapitel überschrieben, das Gösta Gantner, der Autor dieser retrospektiven Artikelserie im P Magazin, zum Buch „Von der Residenzstadt zur Wissenschaftsstadt 1914–2019: Ein Jahrhundert Darmstadt – Band 1: Kunst, Kultur und Kirche“ beigesteuert hat. Der 504 Seiten starke Sammelband ist im Januar 2020 im Justus von Liebig Verlag erschienen, herausgegeben im Auftrag der Wissenschaftsstadt Darmstadt von Peter Engels, Klaus-Dieter Grunwald und Peter Benz. Für 39,80 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN: 978-3-87390-432-3).

 

Authentische Bilder

Die Fotos zu diesem Artikel stammen aus dem anekdotenreichen Nachschlagewerk „Beat und Rock in Darmstadt 1960–1975 – Musikalische Stadtgeschichte“ von Martinus Boll, das 2008 im Büchner-Verlag Darmstadt erschienen ist. 108 Seiten, 12,90 Euro (ISBN 978-3-941310-02-5).

 

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