Foto: Nouki

Wer auf und abseits von Darmstadts Straßen flaniert und genau darauf achtet, kann sie sehen: die vielen unterschiedlichen Jobs und Berufe, die Menschen hier voller Herzblut ausüben und die Stadt damit zu der machen, die sie ist. Die Artikelreihe „Jobs outside the box“ schätzt (eher ungewöhnliche) Berufe wert, die das Stadtbild prägen und die – oft unbemerkt – sehr viel Positives zum Alltag der Heiner:innen beitragen. Vor allem aber soll sie zeigen, was viele längst wissen: dass es zwischen Maschinenbau, Informatik, Medizin, Jura und Philosophie noch jede Menge coole andere Bereiche gibt, in denen Menschen hier arbeiten!

Als mir Leonie Rauschenberg gegenübersitzt, wirkt sie entspannt und fröhlich. Kein Stück ist ihr der Stress durch die Rufbereitschaft anzumerken, die ihre ständige Begleiterin ist. Aufgewachsen ist die 30-Jährige in Rödermark. Es folgten einige Umzüge innerhalb des Rhein-Main-Gebiets und mehrere lange Auslandsaufenthalte in Spanien, Italien und den Niederlanden. Obwohl Darmstadt schon einmal unter ihren Wohnorten war, meint Leonie: „Ich würde sagen, dass ich mich jetzt in Darmstadt zum ersten Mal zu Hause angekommen fühle.“ Und das liegt zu einem großen Teil an ihrer Arbeit. Denn als Hebamme, die Hausbesuche macht, ist sie viel unterwegs. Leonie sagt, sie kenne sich heute so gut in Darmstadt aus, wie noch an keinem anderen Ort zuvor.

Ausbildung im Klinikum Darmstadt

Zurück auf Anfang. Auf die Idee, Hebamme zu werden, kommt sie durch eine Bekannte, die ihre Freude über das bestandene Hebammen-Examen auf den Sozialen Medien teilt. Zu diesem Zeitpunkt hat Leonie bereits eine Ausbildung zur Industriekauffrau und mehrjährige Büroerfahrung hinter sich. Allerdings fehlt ihr die Arbeit mit Menschen. Warum also nicht mal selbst in den Hebammenberuf reinschnuppern? Ein Praktikum im Kreißsaal bringt die Gewissheit: „Irgendwie war es dann um mich geschehen“, schmunzelt Leonie. Als ihr Umfeld erfährt, dass sie kündigen und die Ausbildung zur Hebamme beginnen will, ist der Aufschrei groß. „In Darmstadt ist es ja gefühlt das Lebensziel, einen unbefristeten Merck-Vertrag zu kriegen.“ Leonie hat anderes vor – und sie hat Glück, bekommt einen Ausbildungsplatz am Klinikum Darmstadt. Sie ist eine der letzten, die die Ausbildung anfängt, die heute nur noch als Studium angeboten wird. Die vielen Monate Praxiseinsatz, die die Ausbildung vorsieht, verbringt sie nicht nur im Kreißsaal und auf der Wochenbettstation, Leonie hat auch Einsätze in der Kardiologie, im gynäkologischen OP und auf der Neugeborenen-Intensivstation. An die allererste Geburt, bei der sie dabei war, hat sie gute Erinnerungen. Besonders beeindruckt sie damals die Gelassenheit und Ruhe der Hebamme, der sie über die Schulter schauen darf. Auch traurige Momente erlebt sie in der Ausbildung. „Das erste Mal ein totes Baby zu halten, war natürlich schwer“, erinnert sie sich, „mit der Zeit habe ich immer besser verstanden, warum einige Kolleginnen eine Zusatzausbildung zur Sterbebegleiterin machen.“

Foto: Nouki
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Herausforderungen im Gesundheitswesen

Strenge Hierarchien und gewaltvolle Interventionen während so manch einer Geburt im Krankenhaus gehören auch zu den schweren Aspekten, die Leonie in ihrer Ausbildung erlebt. Der maßgeblich durch die Gesundheitspolitik bedingte Personalmangel führe nicht selten zu unnötigen Interventionen gegen den Willen der Schwangeren, die die Geburt beschleunigen sollen, kritisiert die Hebamme. Als sie den umstrittenen „Kristeller-Handgriff“ anwenden soll, der für die werdende Mutter meist sehr schmerzhaft ist, weigert sie sich. „Grundsätzlich bashen“ wolle sie Kliniken jedoch nicht, denn viele Frauen hätten dort tolle Geburtserlebnisse. „Laut Leitlinien der Hebammenarbeit fühlen sich die Frauen in einer Eins-zu-Eins-Betreuung am sichersten und empfinden dann auch weniger Schmerzen“, erklärt Leonie. Wenn jedoch viel los sei und das Klinikpersonal überlastet, könne eine solche Betreuung kaum gewährleistet werden. „Gib der Frau mal einen Tropf, damit das jetzt schneller geht, der Kreißsaal muss frei werden“ – Aussagen wie diese habe sie während der Ausbildung häufiger zu hören bekommen. Heute weiß sie: „Das höchste Gut in der Geburtshilfe ist Zeit. Im Kliniksystem gibt es die meistens nicht. Aber manchmal, wenn ein großes Kind durch eine kleine Frau muss, braucht es vielleicht ein bisschen länger, als das Lehrbuch sagt. Das heißt nicht, dass es nicht geht.“

Eine andere Art der Geburtsbegleitung

In ihrer letzten Ausbildungsstation, dem Hausgeburtsteam Darmstadt, lernt Leonie eine andere Art der Geburtsbegleitung kennen. „Für mich war es augenöffnend zu sehen: Die Frauen schaffen das alleine, auch ohne Interventionen. Die Natur hat sich etwas dabei gedacht.“ Nach drei Jahren Ausbildung und mit dem Staatsexamen in der Tasche schließt sie sich dem Hausgeburtsteam als freiberufliche Hebamme an. Frisch aus der Ausbildung direkt in die Selbstständigkeit zu starten, kostet eine große Portion Mut. Doch es ist die richtige Entscheidung. Leonie freut sich besonders darüber, dass sie die werdenden Eltern nun viel länger begleiten darf: „Im Krankenhaus habe ich die Frauen, die ein Kind bekamen, nur wenige Stunden gesehen.“ Im Hausgeburtsteam betreut sie eine Familie nun zum Teil sogar über ein Jahr lang, vom Beginn der Schwangerschaft über die Geburt und das Wochenbett (eine Zeit, in der das Hebammenteam sogar tägliche Hausbesuche macht) bis hin zum Beikost-Start. Mittlerweile haben Leonie und ihre sechs Kolleginnen Räume gemietet, die sich sehr gut für die vielfältigen Kurse eignen, die sie anbieten: Das Hebammenwerk Darmstadt war damit offiziell gegründet. Obwohl alle freiberuflich arbeiten, können sie sich dort austauschen und mit ihren jeweiligen Zusatzausbildungen – unter anderem schwangerschaftsvorbereitende Akupunktur, Homöopathie, Schwangerenmassage oder, in Leonies Fall, Kinesio-Taping – unterstützen.

„Mit einem Bein im Knast“

Doch ihr Berufsstand habe auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, sagt Leonie. „Wir stehen immer mit einem Bein im Knast.“ Während Hebammen, die in einer Klinik angestellt sind, über ihren Arbeitgeber versichert sind, sieht das bei freiberuflich arbeitenden Hebammen anders aus. Auf ihnen lastet während der Geburt und der Erstversorgung des Neugeborenen die volle Verantwortung. Ihre Berufshaftpflichtversicherung müssen freiberufliche Hebammen selbst zahlen. Und die hat es in sich: Aktuell liegen die Versicherungskosten für Hebammen, die Geburtshilfe anbieten, bei über 13.000 Euro im Jahr, rechnet Leonie vor. Nur noch wenige Versicherer böten sie überhaupt an. Dadurch sei ein Monopol entstanden, wodurch die Preise exponentiell stiegen. Obwohl die Hebammenverbände seit Jahren mit den Krankenkassen in Verhandlung sind, sieht sie momentan eher wenig Chancen für eine baldige Problemlösung. Wegen der hohen Versicherungskosten hörten aktuell viele Hebammen mit der außerklinischen Geburtshilfe auf. „Und das ist so schade, denn der Beruf ist so wichtig. Für die Gesundheit der Frauen und auch die der nächsten Generation. Aber Frauengesundheit interessiert die alten, weißen Männer in der Politik eben nicht.“ Dabei liege in der außerklinischen Geburtshilfe die Möglichkeit, die Kliniken zu entlasten. In den Niederlanden sei dies längst gängig. Zwar bekämen die Hebammen schon sehr viel Anerkennung von den Eltern, jedoch nicht von der Politik. „Unser Beruf ist immaterielles Weltkulturerbe. Dass er vonseiten der Politik noch immer so wenig wertgeschätzt wird, ist furchtbar.“

Foto: Nouki
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Chorauftritte und Oxytocin-Portiönchen

Bis vor Kurzem arbeiteten die Hebammen des Hausgeburtsteams in 24-Stunden-Rufbereitschaft. Weder entspannt in der Sauna noch gemütlich im Kino sitzen ist in dieser Zeit möglich, von Alkohol trinken ganz zu schweigen. Bei privaten Chorauftritten kann Leonie sich nie sicher sein, ob sie es noch bis zu ihrem Solo schafft, oder ob das Bereitschafts-Handy bis dahin vielleicht doch klingelt. Inzwischen haben die Hebammen des Hausgeburtsteams ihre Arbeit in Schichtdienste aufgeteilt. Während der Dienste gibt es zwar immer noch die Rufbereitschaft, aber endlich auch einmal wieder richtige Freizeit. Diese nutzt Leonie zum Beispiel zum Wandern: Zwei Jakobswege und den West Highland Way hat sie schon hinter sich. Aber auch beruflicher Stillstand ist bei ihr Fehlanzeige. Gerade erst hat sie die ersten Geburtsvorbereitungskurse auf Englisch gegeben, die mit großer Dankbarkeit angenommen wurden. Zudem würde sie gerne noch eine Weiterbildung zur Sexualpädagogin machen. „Der Aufklärungsunterricht in den Schulen ist ja ziemlich überschaubar. Da sehe ich noch viel Luft nach oben.“ Die Gesamtzahl der Geburten, bei denen sie dabei war, schätzt Leonie auf etwas mehr als 200. Doch langweilig wird ihr das nicht: „Es ist mir jedes Mal eine Ehre, dabei sein zu dürfen. Wir Hebammen bekommen bei einer Geburt ja auch ein kleines Oxytocin-Portiönchen mit ab. Diese Freude mitzuerleben, ist immer wieder toll.“

Verstärkung fürs Team Hausgeburt + Online-Petition

Aktuell ist das Team Hausgeburt Darmstadt auf der Suche nach neuen Kolleginnen, die sich dem Team anschließen möchten. Es besteht auch die Möglichkeit, im Rahmen eines Praktikums in den Beruf reinzuschnuppern. Mehr Infos und die Möglichkeit, sich für eine Hausgeburt anzumelden, gibt es hier unter hausgeburt-darmstadt.de und instagram.com/hausgeburt_darmstadt

Wenn Ihr dazu beitragen wollt, dass sich an den schwierigen Arbeitsbedingungen von freiberuflichen Hebammen in Deutschland etwas zum Positiven ändert, unterschreibt gerne die Online-Petition unter hebammenprotest.de