Am Berufsschulzentrum Nord plante man Anfang März, zum internationalen Frauentag 2024, auf dem Schulgelände am Bürgerpark eine Versammlung abzuhalten, um ein Zeichen für Toleranz, Demokratie und ein friedliches Miteinander zu setzen. Die geplante Versammlung wurde aufgrund von formalen Unstimmigkeiten nicht durchgeführt – auf Empfehlung des Schulamtes. Die Organisatorin betonte, dass die Anmeldung ordnungsgemäß über das Onlineformular des Darmstädter Ordnungsamts erfolgte, dort jedoch nicht eingegangen sei. Zusätzlich gab es Bedenken bezüglich der klaren Abgrenzung des Schulgeländes zum Bürgerpark und des möglichen unautorisierten Zutritts von Außenstehenden. Letztendlich wurde den Schulleitungen vom Schulamt geraten, die Veranstaltung abzusagen.
Der formale Rahmen sei zu wahren und man müsse sicherstellen, dass unter Berücksichtigung des Beutelsbacher Konsenses (siehe Infobox) keine Verletzung der politischen Neutralität gegenüber den Schüler:innen erfolgt. Diese Entscheidung wirft Fragen auf, bezüglich der Rolle der Lehrkräfte in politischen Diskussionen im Schulalltag. Insbesondere die Anfrage der AfD zum Thema „Aufrufe zur Teilnahme an Demonstrationen an hessischen Schulen“ wenige Tage später an den Hessischen Landtag scheint hier eine zusätzliche Dimension hinzuzufügen. Dieser Zwiespalt zwischen politischer Neutralität und dem Eintreten für demokratische Werte wird zunehmend spürbar. In dieser Atmosphäre der Unsicherheit und Kontroverse möchte ich als Lehrerin meine persönlichen Gedanken und Reflexionen über die Bedeutung politischer Neutralität und demokratischer Werte im Schulsystem teilen.
Überwältigt und gebeutelt – ich kann nicht nicht politisch sein
Es ist Freitagabend und anstatt Arbeiten zu korrigieren (der Berg wird einfach nicht weniger), wälze ich Gesetzestexte, lese Fallbeispiele, finde in die Jahre gekommene und neue Publikationen und Studien darüber, ob Lehrer:innen politisch neutral bleiben müssen.
Hintergrund meiner Recherche ist ein Zeitungsartikel aus dem Darmstädter Echo über die eingangs beschriebene, ausgefallene Schüler:innendemo, der es schaffte, bei mir Wut und Empörung auszulösen. In meinen Gedanken solidarisierte ich mich sofort mit meinen Kolleg:innen, die eine Absage aufgrund von Formfehlern für ihre Versammlung erhielten. „Frustriert und eingeschüchtert“ fühlten sie sich, las ich. Also rief ich den Veranstalter:innen zu: „Ihr macht das richtig, wenn ihr Euch hinter die Demokratie stellt. Bleibt standhaft.“ Man wollte gemeinschaftlich den Sprung aus den Filterblasen in die Realität wagen. In meinem Kopf überschlugen sich die Ereignisse aus dem Schulalltag. Immer wieder werde ich als Vertrauensperson und „role model“ von Schüler:innen gewählt.
So bekomme ich Videos und Bilder aus dem Web 2.0 gezeigt, die ich kommentiere. Ich erinnerte mich an meinen Beitrag in den sozialen Medien zu „#MeinLehrerFetzt, meine Solidarität mit Lehrkräften, die demokratische Werte und Vielfalt vermitteln“. „Ich lasse mich nicht einschüchtern!“, hatte ich dazu geschrieben. Damals, 2018, ging die erste AfD-Meldeplattform [das Portal „Mein Lehrer hetzt“, auf dem AfD-kritische Lehrer:innen denunziert wurden] online.
Wie wird man also seine Verunsicherung los, wenn es um politische Auseinandersetzungen mit Schüler:innen geht? Gerade die Entwicklungen in den digitalen Medien verschlagen mir oft die Sprache und damit ich nicht verstumme, arbeite ich hier schon lange nicht mehr allein. Ich hole mir Hilfe bei demokratiepädagogischen Initiativen, informiere mich über außerschulische Präventionsarbeit und verhalte mich. Ich bin ich, ich habe eine Meinung! „Ich bin ein Neutrum, mit Bedeutung“, singen mir kluge Köpfe ins Ohr. Ich bin eben kein politisches Neutrum. Über alldem liegt der Schleier des Beutelbacher Konsenses.
Der Beutelsbacher Konsens ist mitnichten mit politischer Neutralität gleichzusetzen, vielmehr ist er im Sinne des Grundgesetzes wertgebunden.
Ich erinnere mich weiter an einen Schulleiter, der mich bei meinem Bundeslandwechsel von Berlin nach Hessen aufklärte: „Hessen ist nicht Berlin, damit das klar ist!“ Also legte ich meinen Eid auf die Verfassung ab, bei der Verleihung meiner Diensturkunde. Zum zweiten Mal, schließlich hatte ich schon während meiner Referendariatszeit in Berlin geschworen. Ich habe gelernt, nicht nur während des Unterrichts in Neukölln oder Lichtenberg, rassistische und menschenfeindliche Aussagen, die nicht durch das Grundgesetz gedeckt sind, einzuordnen und gemeinschaftlich mit den Schüler:innen aufzuarbeiten. Sowohl das Neutralitätsgebot als auch der Beutelsbacher Konsens sind nun mal vor dem rechtsverbindlichen Rahmen der Menschenrechte zu verstehen. Aus dieser Perspektive sind Menschenrechtsbildung und der Schutz vor Diskriminierung verpflichtender Bestandteil des Schullebens.
Meine Prämisse war damals wie heute, die Vermittlung grundlegender Werte wie Toleranz und gegenseitige Achtung zu erreichen, sodass die Schüler:innen die sogenannten „red flags“ erkennen. Mit viel Geduld, Aufklärung, Liebe und Trost werden sie aufgefangen, um sie zu stärken gegen die Einflussnahme antidemokratischer und populistischer Bewegungen.
Ich bin mir meiner Rolle bewusst und die Verantwortung lässt mich oft nicht schlafen. Um den ehemaligen Außenminister Heiko Maas zu zitieren: „Die Jahre des diskursiven Wachkomas müssen ein Ende haben. Schweigen ist politisch. Zu streiten – das ist die Lebensader der Demokratie. Seien wir laut, seien wir vielstimmig!“
Ich wollte keine politische Sozialisation übernehmen und kann nicht nicht politisch sein. Wann immer ich die Grundwerte der Demokratie infrage gestellt sehe, halte ich umso mehr an Liebe, Respekt und Toleranz fest, um diese Grundsätze zu leben. Für ein friedliches Miteinander. Nicht nur in der Schule.
Tipps für Lehrer:innen, die planen, eine Versammlung zu organisieren und dabei den bürokratischen Wahnsinn zu meistern:
> Stelle sicher, dass Du die Anmeldung beim Ordnungsamt frühzeitig abgibst (mit einem notariell beglaubigten Nachweis, dass sie auch tatsächlich eingegangen ist – schließlich willst Du nicht im Chaos der Behörden verloren gehen).
> Wähle einen Veranstaltungsort außerhalb des Schulgeländes – am besten auf dem Mond oder in einer anderen Galaxie, um sicherzustellen, dass auch wirklich niemand gestört wird.
> Plane die Veranstaltung außerhalb der regulären Schulzeit (warum nicht während des jährlichen Pädagogischen Tages, wenn die Kolleg:innen sowieso schon genug Zeit haben, um sich zu langweilen?).
> Mache deutlich, dass es sich um eine absolut freiwillige Veranstaltung handelt und nicht etwa um einen geheimen Teil des Lehrplans, um die Schüler:innen zu indoktrinieren.
Beutelsbacher Konsens
Diese Übereinkunft stammt aus dem Vorjahr des Deutschen Herbstes und wurde auf einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1976 getroffen. Sie legt drei Prinzipien für den Politikunterricht fest: 1. Das Überwältigungsverbot, nachdem es nicht erlaubt ist, Schüler:innen im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern. 2. Das Gebot der Kontroversität, nachdem was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers erscheinen muss. Und 3. Die Schüler:innenorientierung, um die Schüler:innen in die Lage zu versetzen, eine politische Situation und die eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.
Die Formulierung des Beutelsbacher Konsens ist spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre nicht mehr unumstritten (vgl. Schrum 2023, Wrase 2020, Burger 2024) und wird als Produkt des ganz spezifischen politischen Umfelds der 1970er-Jahre für den aktuellen politischen Kontext vielfach als nicht hinreichend differenziert betrachtet. (vgl. Pohl, 2015) So stellt beispielsweise die Frankfurter Erklärung aus dem Jahr 2015, die zahlreiche Professor:innen und Lehrende unterzeichnet haben, einen zeitgemäßen Leitfaden für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung bereit. (vgl. Frankfurter Erklärung, 2015)
Absolut sehenswert: Diensteid verpflichtet! Aufstehen für die Demokratie. Von Teachers for Future Germany:
Quellen
Beutelsbacher Konsens. (1976). Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würtemberg: https://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens
Burger, R. (22. 02 2024). Lehrer sollen mit Schülern gegen Rechtsextremismus protestieren. Frankfurter Allgemeine: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/demos-gegen-rechtsextremismus-ministerin-in-nrw-ruft-lehrer-zu-teilnahme-auf-19536953.html
Frankfurter Erklärung. (Juni 2015): https://uol.de/f/1/inst/sowi/ag/politische_bildung/Frankfurter_Erklaerung_aktualisiert27.07.15.pdf
Pohl, K. (19. 03 2015). Wie weit geht das Kontroversitätsgebot für die politische Bildung? Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/lernen/politische-bildung/193225/kontroversitaet-wie-weit-geht-das-kontroversitaetsgebot-fuer-die-politische-bildung/?p=all
Schrum, A. (09. 06 2023). Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein? SWR: https://www.swr.de/swr2/wissen/wie-politisch-duerfen-lehrkraefte-sein-102.html
Wolff, T. (01. 03. 2024). Schülerdemo für Toleranz abgesagt – auf Druck von rechts? Darmstädter Echo: https://www.echo-online.de/lokales/darmstadt/schuelerdemo-fuer-toleranz-abgesagt-auf-druck-von-rechts-3368030?utm_source=newsletter
Wrase, M. (27. 03 2020). Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein? Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/306955/wie-politisch-duerfen-lehrkraefte-sein/