Zwischen Aufstand und Aufstieg
Das literarische Darmstadt im September
Die Zeitungen und Nachrichten sind voll von Krisen und bestärken Abstiegsängste. Am Puls der Zeit wird in aktuellen Büchern nach Auf- und Ausstiegen gestiegen gesucht:
Freitag, 5. September
Zwanzig Jahre Literaturgruppe Poseidon sind ein runder Grund zum Feiern. Die wandernden Veranstalter begehen das Jubiläum im Hoff-Art Theater stilecht mit einer Werkstatt-Lesung aus noch im Entstehen begriffenen Texten. Die bunte Mischung neuer und alter Mitglieder bestehend aus Tamara Krappmann, Barbara Zeizinger, Stefan Benz, PH Gruner, Finn Holitzka, Andreas Roß, Sebastian Kienitz, Frank Schuster und Marc Mandel stellt ihre aktuellen Geschichten, Gedichte und Essays ab 19 Uhr im fließenden Wechsel vor, unterbrochen von Ausflügen in die Geschichte der südhessischen Kreativwerkstatt und musikalisch begleitet von der Jazz-Flötistin Stephanie Wagner.
Samstag, 6. September
Hierzulande vor allem für seinen Commissario Montalbano bekannt, würde der 2019 verstorbene Andrea Camilleri dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiern. Ihm und seinem umfangreichen Werk widmet die Dante Alighieri Gesellschaft ab 19 Uhr den Abend im Literaturhaus und hebt auch den kritischen Blick auf Nachkriegs-Italien in seinen Dramen und Krimis hervor.
Sonntag, 7. September
„Wie schwer wiegt ein Schatten?“, fragt sich die Berliner Journalistin Mia in Tel Aviv, als sie sich in den verheirateten David verliebt. Wie nicht nur die Rolle der Geliebten ihren Aufenthalt in dem umkämpften Land überschattet, sondern auch die Auseinandersetzung mit der verstorbenen Mutter, erzählt Christiane Wirtz in ihrem ersten Roman, aus dem die Journalistin ab 11.30 Uhr in der Stadtkirche liest.
Montag, 8. September
In „Büchner Sixty-Nine“ erinnert Frank Schuster an eine Schülerrebellion am Woog (siehe Hintergrund-Artikel auf Seite 25 ff. der aktuellen P-Ausgabe). In der von Johannes Breckner moderierten Buchvorstellung ab 19 Uhr im Literaturhaus kommen auch für den Roman wichtige Zeitzeugen wie der ehemalige Lehrer Heinz Lüdde und Ex-Schüler Andreas Müller zu Wort.
Mittwoch, 10. September
„Tausendmal so viel Geld wie jetzt“ ist für viele junge Männer das große Ziel, dem sie für den sozialen Aufstieg alles andere unterordnen. Einen Einblick in diese Parallelgesellschaft aus Memecoins und Token Values bietet der neue Essay von Juan S. Guse mit vier Porträts erfolgshungriger Crypto-Bros, den der Soziologe und Autor ab 19 Uhr in der Bar der Centralstation vorstellt.
„Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, weil ich Jude bin“, bekundete Elias Canetti 1981 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises. In diesem Vortrag im Literaturhaus erinnern Joachim Keidl und Karlheinz Müller ab 19 Uhr an den vielsprachigen Autoren und gehen auf die von genannten Quellen und Bezüge deutschsprachiger Literatur ein.
Dienstag, 16. September
Am Frankfurter „Osthafen“ behandelt ein Arzt in einer illegalen Praxis Kriminelle und andere Halbweltgestalten. Kompliziert wird das einträgliche Geschäft für den Doktor ohne die Lizenz zur Behandlung, als eine Leiche verschwinden muss. Mit auf die Suche nach einem verschwundenen Kind und viel Geld nimmt uns Ralf Schwob in seinem neuen Krimi mit, aus dem der Groß-Gerauer Autor ab 19 Uhr in der Galerie des Restaurants Rosengarten liest.
„Ich habe eine Barrikade gebaut“, bekannte Anna Świrszczyńska in Gedichten, die 1974 – dreißig Jahre nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto – erschienen. Den im Vorjahr in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlichten Band mit poetischen Augenzeugenberichten der ehemaligen Sanitäterin stellt der Herausgeber und Übersetzer Peter Oliver Loew ab 19 Uhr im Deutschen Polen-Institut im Schloss vor.
„Die Assistentin“ Charlotte richtet es sich in der neuen Stadt und im neuen Job nicht zu bequem ein, denn das Vorzimmer des Verlagschefs will sie nur für den Aufstieg verlassen. Dafür schiebt sie nicht nur ihren eigentlichen Berufswunsch als Musikerin auf. Was die junge Frau, die im harten Arbeitsalltag ankommt, noch alles auf sich nimmt, beschreibt Caroline Wahl in ihren neuen Roman, aus dem die preisgekrönte Autorin ab 19.30 Uhr in der Centralstation liest.
Mittwoch, 17. September
„Bis die Sonne scheint“ möchte Daniel das Beste aus den Zeit vor der Konfirmation rausholen und vermeidet wie seine Eltern den Umgang mit dem Gerichtsvollzieher. Der neue Roman von Christian Schünemann ist einerseits eine Reise in das Jahr 1983 mit den entsprechenden RAF-Fahndungsplakaten und „Bravo“-Postern, andererseits eine leider zeitlose Familienstudie über das Einrichten in unwirtlichen Verhältnissen, aus der der Drehbuchautor und Schriftsteller ab 19.30 Uhr in der Buchhandlung am Markt liest.
Donnerstag, 18. September
Lenkt „Der Hase im Mond“ vom Weiterdenken ab oder ist er eher nächtliche Inspiration? Von Schreibblockaden, ergreifenden Lektüren und zu lösenden Rätseln handeln die Geschichten im neuen Erzählband von Milena Michiko Flasar, aus dem die österreichische Autorin ab 19.30 Uhr in der Buchhandlung am Markt liest.
Freitag, 19. September
„Unter allen Umständen frei“ wollen die so unterschiedlichen Politikerinnen und Revolutionärinnen Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman leben, denn trotz teils gegensätzlicher Ansätze eint sie der Kampf um die Befreiung der Frauen. Ihren Band mit Porträts der drei revolutionären Feministinnen führt die diesjährige Luise-Büchner-Preisträgerin Antje Schrupp ab 19 Uhr im Literaturhaus ein und verweist dabei auch auf aktuelle Parallelen in den USA und anderswo.
Samstag, 20. September
Aus der realen Geschichte um eine Schüler-Revolte an der Georg-Büchner-Schule gegen eine Lehrerentlassung hat Frank Schuster einen Roman über junge aufmüpfige Darmstädter im Jahr 1969 gemacht. Für „Büchner Sixty-Nine“ war auch der damals aktive Schüler Andel Müller eine inspirierende Quelle und ist ab 20 Uhr im Agora am Ostbahnhof mit als Gesprächspartner zu Gast.
Dienstag, 23. September
„Super einsam“ bricht Vito aus der unterkühlten Kreuzberger Bude aus und erfährt vieles über lange Nächte, falschen Sex und die dauertrauernde Suche nach dem Selbst. Aus seinem Generationenporträt liest Anton Weil ab 19.30 Uhr in der Reihe „Debütant*innenball“ in der Centralstation.
Mittwoch, 24. September
„Der Duft des Göttlichen“ steigt einem in „Indien im Alltag“ auf Schritt und Tritt in die Nase. Das bestätigt Martin Kämpchen in seinem Buch, in dem er sich nicht über eine Reise ausbreitet, sondern das fünfzig Jahre lange Abenteuer mit verschiedenen Berufen schildert. Erste Eindrücke aus seinen Erfahrungen auf dem Subkontinent bietet die Lesung ab 19 Uhr im Literaturhaus.
Freitag, 26. September
Wohnen mit Ausblick bietet seltener rosige Aussichten, als weit verbreitete Glücksversprechen glauben machen wollen. Plattenbau und „Achtzehnter Stock“ lassen auch Wanda vom sozialen Aufstieg als beliebte Schauspielerin träumen. Die Gelegenheit dazu ergreift sie im neuen Roman von Sara Gmuer, als für eine neue Streaming-Serie gecastet wird. Filmreife Szenen liest die in Berlin lebende Schweizer Schriftstellerin ab 19 Uhr im Künstlerkeller im Schloss.
Sonntag, 28. September
In „Glossolalie oder Zum ewigen Frieden“ begegnen sich namentlich ungenannte Wiener Kaffeehausphilosophen und reden sich die Melanges kalt, bis etwas Hochprozentiges nachhilft. Aus dem literarischen Essay von Michael Grossman liest ab 15 Uhr im Literaturhaus die Schauspielerin Augusta Belóka, um eine sachgerechte Einordnung bemüht sich anschließend die Philosophin Ute Gahlings.
Dienstag, 30. September
Am „Tag des Übersetzens“ steht im Deutschen Polen-Institut im Schloss ab 19 Uhr mit Renate Schmidgall eine Darmstädter Dichterin im Mittelpunkt, die vor dem Erscheinen eigener Verse mit ihren Übertragungen aus dem Polnischen beeindruckte. Wie die Lyrik der Nachbarn ihre eigene beeinflusste, lässt sich unter anderem dem Band „Kein Verlass auf Uhren und Gestirne“ entnehmen – und ist auch Thema des Gesprächs mit Moderator Peter Oliver Loew.