Auf den Wikipedia-Seiten der Darmstädter Friedhöfe sind die Grabstätten bekannter Persönlichkeiten aufgelistet. Insgesamt sind es 160 Gräber – darunter gerade einmal sieben weiblicher Verstorbener. Der Anteil der Frauen, die laut dieser Auflistung erinnerungswürdig sind, ist also etwa genauso groß wie der Anteil der Namen „Wilhelm“ oder „Ludwig“. Hier zeigt sich ein Problem, das bereits Virginia Woolf aufdeckte, als sie 1929 ihr berühmtes Essay „A room of one’s own“ schrieb: Darin schilderte sie das Schicksal Judith Shakespeares, der fiktiven Schwester Williams, die aufgrund ihres Frauseins trotz großen Talents niemals so erfolgreich hätte werden können wie ihr berühmter Bruder. Frauen sind auch in der Darmstädter Geschichtsschreibung häufig untergegangen und scheinen heute vielfach beinahe unsichtbar. Doch es lohnt sich, auf die Suche nach denen zu gehen, die gegen die Grenzen ihrer Zeit rebellierten – und vergessene Darmstädterinnen wieder ans Tageslicht zu holen. Zwei von ihnen sind die ersten deutschen Frauenärztinnen Maria Regina Josepha von Siebold und ihre Tochter Marian Theodore Charlotte Heidenreich von Siebold.
Regina wurde im Dezember 1771 im thüringischen Landkreis Eichsfeld nahe der hessischen Grenze geboren. Mit zwei Jahren adoptierte sie ihr Onkel, Lorenz Henning, der ihr eine tadellose Erziehung zukommen ließ. So besuchte sie ab dem Alter von sieben Jahren eine Schule in Göttingen, zwei Jahre später setzte sie ihre Ausbildung im Ursulinenkloster in Duderstadt fort. Außerdem lernte Regina zu reiten und eine Kutsche zu fahren, was ihr später oft die Arbeit erleichterte. Knapp ein Jahr, nachdem ihr Onkel verstorben war und sie zur Alleinerbin seines Hab und Guts bestimmt hatte, heiratete sie ihren vom Onkel bestimmten Vormund, den 25 Jahre älteren Regierungsrat Georg Heiland. Nach sechs Jahren Ehe starb dieser und ließ die 22-jährige Regina zurück – alleine mit zwei Töchtern und schwer erkrankt. Nachdem sie bei mehreren Ärzten in Behandlung war, gelang es schließlich dem jungen Damian von Siebold, Sohn einer altehrwürdigen Arztfamilie, sie zu heilen. Zwei Jahre später heirateten sie. Nach mehreren Anstellungen, zuletzt in Worms, entschied die junge Familie, nach Darmstadt zu ziehen. Damian sollte im knapp 30 Kilometer entfernten Lampertheim Amtsarzt werden. Doch nachdem er im Lazarett zu Worms die Verwundeten des frühen Napoleonischen Krieges versorgt hatte und – endlich in Darmstadt angekommen – dort nun deutlich weniger verdiente, litt er zunehmend an einer „Gemütsverstimmung“, was ihm die Arbeit als Arzt erschwerte. Die finanzielle Situation der Familie verschlechterte sich, bis Regina entschloss, ihren Mann tatkräftig zu unterstützen.
Hinter Vorhängen verborgen, als Mann verkleidet
Sie wollte die Geburtshilfe erlernen, nach allen Regeln der Kunst, inklusive der akademischen Bildung und offiziellen Prüfung. Nur war es Frauen zu dieser Zeit noch verboten, an den Universitäten zu lernen, ganz zu schweigen davon, anerkannte Ärztinnen werden zu können. Die einzige Ärztin im ganzen Land war Dorothea Christiane Erxleben, sie war nur durch die direkte Einwilligung Friedrichs des Großen 1741 zur Promotion an der Universität Halle zugelassen worden. Doch Regina hatte Glück: Nachdem sie schon früh ihren Schwiegervater Carl Caspar von Siebold, Professor für Chirurgie und Geburtsheilkunde an der Medizinischen Fakultät in Würzburg, von ihrer Intelligenz hatte überzeugen und seine Sympathie hatte gewinnen können, lud dieser sie als heimliche Hörerin an die Universität Würzburg ein. Seit 1799 existierte dort eine eigene Professur für Geburtshilfe unter der Leitung ihres Schwagers, Adam Elias von Siebold. Hinter Vorhängen verborgen und unter Männerkleidung versteckt erwarb Regina nun das theoretische Wissen, mit dem ihre männlichen Kommilitonen Ärzte und Akademiker wurden. Sie selbst solle sich doch lieber in die Rolle einer Hebamme fügen, so jedenfalls sah sie der Schwager. Auch deshalb gestaltete sich Reginas Studium eher kurz, nach nur einem Semester in Würzburg kehrte sie nach Darmstadt zurück und lernte dort von ihrem Mann die Praxis zur akademischen Theorie. So vorbereitet wandte sie sich schließlich 1807 an Großherzog Ludewig I. mit der Bitte, abschließend geprüft zu werden. Dabei trat sie selbstbewusst und professionell auf, wie ein Auszug aus ihrem Schreiben an den Großherzog zeigt: „Höchstdieselben wollen gnädigst verordnen, daß das Großherzogliche Medizinalkollegium meine Kenntnisse als Accoucheuse [veraltet für: Hebamme] prüfen und mir nach Befund die freie Ausübung meiner gründlich erlernten Kunst gestattet werde.“ Genauso geschah es dann auch – und am 28. November 1807 erhielt Maria Regina Josepha von Siebold die Erlaubnis, als Ärztin für Geburtshilfe zu praktizieren.
Doktortitel und festes Gehalt
Ihr Mann, der sie immerzu unterstützt hatte, muss nicht nur furchtbar dankbar, sondern auch sehr stolz auf den ungewöhnlichen Weg seiner Frau gewesen sein, denn 1814 beantragte er bei der Landesuniversität Gießen, Regina möge als Doktor der Medizin ehrenhalber gewürdigt werden. Ein äußerst ungewöhnlicher Wunsch und nach Dorothea Christiane Erxleben auch erst das zweite Mal, dass einer Frau der offizielle Doktortitel verliehen wurde. Nach mehrmaliger Anfrage wurde diese Bitte auch tatsächlich gewährt. Damit bekam sie nicht nur eine große Anerkennung, sondern auch ein festes Gehalt. Die 300 Gulden monatlich, die sie nun zur Familienkasse beisteuern konnte, verdiente sie mit harter und leidenschaftlicher Arbeit. Regina stand ihrem Mann nicht nur zur Seite, sondern praktizierte auch eigenständig, besuchte Patient:innen, führte Behandlungen durch, fuhr in der Kutsche und ritt zu Pferde. Dabei setzte sie sich auch einigen Gefahren aus, wie ein Bericht von 1814 zeigt, als der Boden ihrer Kutsche durchbrach, sie von den aufgeregten Pferden einige Meter weit geschleift wurde und erst nach Monaten wieder ohne Krücken gehen konnte.
Durch die Hingabe an ihren Beruf erlangte sie bald eine gewisse Bekanntheit – und auch finanzielle Unterstützung durch wohlhabende Patientinnen. Diese, und ihr festes Gehalt, ermöglichten ihr wohl auch die Versorgung armer Frauen, die sie nicht nur als Ärztin behandelte, sondern sie auch mit Nahrung und Kleidung unterstützte. So lebte und arbeitete sie bis ins hohe Alter. Als Regina von Siebold 1849 mit 77 Jahren starb, hinterließ sie eine beachtliche Biografie – und eine Tochter, die ihr großes Erbe mit gleicher Leidenschaft und Kraft antreten sollte.
Charlotte Heidenreich von Siebold, geboren am 12. September 1788 in Heiligenstadt, wurde mit sechs Jahren von Damian von Siebold als Adoptivtochter aufgenommen. Schon als Jugendliche möchte sie, wie ihre Mutter auch, zur Universität gehen, Theorie und Praxis eingehend lernen und offiziell geprüft werden. Sie studiert die Bücher ihrer Eltern, sieht ihnen in der Praxis über die Schulter, hilft bei kleineren Arbeiten mit. In der Zeit, in der ihre Mutter in Würzburg studiert, leitet sie den Haushalt. 1811, vier Jahre, nachdem ihre Mutter das Examen abgelegt hat, verlässt Charlotte das Elternhaus. Sie absolviert ein einjähriges Studium in Göttingen, wo sie zwar als Frau noch immer nicht immatrikuliert sein kann, dort aber Vorlesungen von führenden Medizinern ihrer Zeit hört und weitreichende Kenntnisse der Geburtshilfe erwirbt.
Praktische Übung hatte sie bereits in ihrem Elternhaus erfahren, und so erhielt Charlotte bereits 1814 das, was wir heute staatliche Zulassung nennen. Und das nach einer scheinbar überaus erfolgreichen theoretischen und praktischen Prüfung, wie der Prüfungsbericht des Darmstädter Medizinkollegiums dokumentiert: „Wir können sie daher bei der stärksten Überzeugung, daß sie es verdiene, als eine durch Geschicklichkeit sich vorzüglich auszeichnende Geburtshelferin der Allerhöchsten Serenissimi Königl. Hoheit alleruntertänigst empfehlen.“ Motiviert durch akademischen Ehrgeiz und sicher auch durch die Errungenschaften ihre Mutter, war Charlotte damit allerdings noch nicht zufrieden. Und so promovierte sie bereits drei Jahre später an der Universität Gießen – nicht, wie ihre Mutter, ehrenhalber, sondern nach allen Regeln des universitären Betriebs. Ihre Arbeit „Über eine Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter und über eine Bauchhöhlenschwangerschaft insbesondere“ reicht sie 1817 ein, auf 23 Seiten beschreibt sie den Verlauf einer solchen Schwangerschaft, den Versuch, die Schwangere durch eine Operation zu retten, und – nachdem dies nicht möglich war – die Ergebnisse ihrer Obduktion. Schon im Vorwort der Arbeit wird die medizinische Neugier und der leidenschaftliche Ehrgeiz Charlottes deutlich: „Zu [dieser Dissertation] wählte ich mir einen Gegenstand, welcher nicht streng genug berücksichtigt werden kann. – Ich hatte Gelegenheit eine Bauchhöhlenschwangerschaft zu beobachten, die mir für das größte ärztliche Publikum Interesse zu haben und daher einer Bekanntmachung allerdings wert schien.“
Aufsehen erregende Dissertation
Mit der Thematik ihrer Arbeit, den guten Zeugnissen und ihrem eigenen Wunsch, ihre Dissertation „ordentlich und öffentlich“ verteidigen zu dürfen, muss dieser Vorgang wohl eine kleine Sensation gewesen sein. Weiter noch, weil sie sich in ihrer Arbeit gegen die Grundsätze ihres Göttinger Lehrers Friedrich Benjamin Osiander stellt, der sie prompt als „charakterloses Weib“ bezeichnet und bereut, sie unterrichtet zu haben. Doch Charlotte scheint wenig Angst vor Kritik zu haben. In den 16 Thesen, die ihrer Dissertation nachgehen und die sie öffentlich verteidigen möchte und muss, kritisiert sie die schlechte Ausbildung und Prüfung von Hebammen und fordert, dass endlich mit alten Mythen rund um die Geburt aufgeräumt werden soll. Ihr Mut, ihre Leidenschaft und ihr standhaftes Verhalten zahlen sich aus: Zurück in Darmstadt, jetzt als Doktorin und praktizierende Ärztin, genießt sie einen untadeligen Ruf. Wie hoch geachtet sie war, zeigt sich auch am hohen Stand mancher Patient:innen, so begleitet sie beispielsweise 1819 die hochschwangere Herzogin von Kent nach London, wo sie die Geburt der späteren Königin Victoria leitet.
Trotz ihres Status bleibt Charlotte bodenständig und kümmert sich um die Nöte und medizinischen Sorgen der armen Bevölkerung auf dem Land und vor allem in Darmstadt. So forderte sie beispielsweise Großherzog Ludwig II. auf, eine „Gebäranstalt“ für Frauen aus armen Verhältnissen zu bauen. Dabei sah sie den reicheren Teil der Bevölkerung klar in der Verantwortung. In ihrem Schreiben an den Großherzog äußert sie den Wunsch, „eine Collekte erheben zu dürfen, wo ich mich auch an hochstehende Persönlichkeiten des Auslandes wenden würde, welche mir gewiss eine Gabe nicht versagen würden.“
Stiftung zur Unterstützung armer Wöchnerinnen
Ihr Leben scheint aus Arbeit zu bestehen – in der Praxis ihres Vaters, auf dem Land, im Ausland. Erst spät heiratet sie den 13 Jahre jüngeren Oberstabsarzt August Heidenreich. Sie nimmt seinen Namen an, behält jedoch den Zusatz „von Siebold“ – eine Hommage an den Adoptivvater und fortwährenden Unterstützer. Sie ist zu dieser Zeit bereits 41 Jahre alt und eine erfolgreiche, gut verdienende Ärztin. Das erklärt auch den ungewöhnlichen Ehevertrag des Paares, in dem Charlotte sich verpflichtet, die Kosten des gemeinsamen Haushaltes zu tragen (mit Ausnahme des Weins), und sogar ein Haus für das Paar bereitzustellen. Ironischerweise blieb diese Ehe kinderlos. Über 40 Jahre war Charlotte als Geburtshelferin tätig, genoss höchstes Ansehen und den Ruf bester medizinischer Kenntnisse. Als sie 1859 im Alter von 71 Jahren starb, gründeten Freundinnen und dankbare Patientinnen in Darmstadt die Charlotte-Heidenreich-von-Siebold-Stiftung, deren Sinn und Zweck die „Unterstützung armer, vorzüglich kranker, in Darmstadt und Bessungen wohnender Wöchnerinnen aller Konfessionen“ war. Fast 100 Jahre lang bestand die Stiftung, zu deren berühmten Mitgliedern auch die Herzogin von Kent, ihre Tochter Königin Victoria und die Zarin Marie Alexandrowna von Russland zählten.
Preise und Straßennamen
Auch wenn das Leben und Wirken der beiden Frauen lange vorbei ist, prägen sie noch immer die Wissenschaft, wenn auch vor allem in der Erinnerungskultur. So werden am Göttinger Universitätsklinikum seit 2006 Wissenschaftlerinnen durch das Heidenreich-von-Siebold-Programm „während der Habilitation, insbesondere in einer fortgeschrittenen Phase der Qualifizierung zur Hochschullehrerin“ gefördert. Daneben verleiht das Darmstädter Energieunternehmen Entega alle zwei Jahre den Charlotte-Heidenreich-von-Siebold-Preis für „herausragendes bürgerschaftliches Engagement auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene“. Im Alltag erinnern heute vor allem die Sieboldstraße im Johannesviertel und die Heidenreichstraße im Woogsviertel an die beiden ersten deutschen Frauenärztinnen.
Zur weiteren Erinnerungskultur zählt das altehrwürdig erhaltene Familiengrab der von Siebolds auf dem Alten Darmstädter Friedhof. Dort sind nicht nur beide Frauen bestattet, sondern auch ihre Ehemänner und weitere Mitglieder der Familie. In einem Brief an den Direktor des Hessischen Staatsarchivs äußert Dr. Gerda Vöge, Darmstädter Politikerin und Kinderärztin, 1988 die Angst, das Grab könne entfernt werden. Der Zaun sei baufällig und die Steine verwittert. Und tatsächlich ist vor allem der Name auf Charlottes Grabstein nur mit einiger Mühe lesbar, dafür sind die in Stein gemeißelten Figuren fein gearbeitet und haben die Zeit überdauert. Auch der Zaun wurde erneuert – und auf Charlottes Grab blühen frische Blumen. Schön wäre eine kleine Plakette (wie vor dem Grab Ernst Elias Niebergalls, direkt gegenüber), die das Leben und Wirken der beiden Pionierinnen kurz darstellt. Damit Maria Regina Josepha von Siebold und Marian Theodore Charlotte Heidenreich von Siebold, diese berühmten Darmstädterinnen, auch wirklich niemals vergessen werden.