Das Glück liegt auf dem Rücken der Dächer | Foto: Nouki

Er hat wohl einen der ungewöhnlichsten Arbeitsplätze der Stadt: Ralf Schilke lässt sich regelmäßig auf Darmstadts Dächern den Wind um die Nase wehen. Im Gespräch mit ihm wird schnell klar: Zum Schornsteinfegersein gehört viel mehr, als Schornsteine zu fegen.

Trotz vollem Terminkalender und strengem Arbeitsrhythmus hat Ralf einen Weg gefunden, sich jeden Tag einen kleinen Urlaub zu gönnen – ganz ohne Kofferpacken. Abkupfern lohnt sich!

Seit 1992 ist Ralf Schilke Schornsteinfeger. Dabei hatte der Schaafheimer ursprünglich ganz andere berufliche Pläne. Nach der Schule macht er zunächst eine Ausbildung zum Chemikanten. Es folgen Zivildienst im Elisabethenstift, Fachabitur und schließlich ein Chemiestudium.

Doch die viele Theorie langweilt Ralf. Der Besuch eines Schornsteinfegers bei sich zu Hause ist schließlich der Auslöser, der für Ralf die Karten noch mal ganz neu mischt. Dieser lädt ihn nämlich ein, ihn mal für ein paar Stunden bei der Arbeit zu begleiten. Ralf nimmt das Angebot an – und ist sofort begeistert. Besonderes das Aufs-Dach-Gehen gefällt ihm richtig gut. Und so macht Ralf Nägel mit Köpfen: Das Chemiestudium wird nach vier Semestern abgebrochen, die Ausbildung zum Schornsteinfeger begonnen.

Ein „Psst“ vom Dach

Durch seinen Chemikanten-Hintergrund kann Ralf Schilke die Schornsteinfeger-Ausbildungszeit auf zwei Jahre verkürzen. Die erste Stelle nach der Ausbildung findet er bei Bezirksschornsteinfegermeister Peter Hoffmann in Mühlheim. Während seiner Zeit als Geselle ist er häufig von Kopf bis Fuß pechschwarz – wegen der Kohlebriketts, die damals noch viel zum Heizen verwendet werden. „Das war eine riesige Schweinerei“, erinnert er sich. Wenn er auf dem Dach ist, macht er sich häufig einen Spaß daraus, Passanten, die er kennt, vom Dach aus zuzupssten, sodass sie stehen bleiben und sich verwundert umsehen. Einmal stürzt er auch vom Dach, 1993, das weiß er noch genau. Vom Dach eines Einfamilienhauses geht es mehrere Meter in die Tiefe. Zum Glück bewahrt ihn eine Thuja-Hecke vor dem schmerzhaften Aufprall und auch vor größeren Verletzungen. 1997 macht Ralf seine Schornsteinfeger-Meisterprüfung. 22 Jahre bleibt er insgesamt bei Meister Hoffmann, dem „Ideal von einem Chef“, so wohl fühlt er sich dort. Doch irgendwann ermutigt ihn sein Meister, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Zu dieser Zeit wird gerade ein Kehrbezirk in Darmstadt frei, auf den Ralf sich bewirbt, und den er auch bekommt.

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Von Kehrbezirk zu Kehrbezirk

Im Landkreis Darmstadt-Dieburg gibt es etwa 23 Kehrbezirke und pro Bezirk mindestens einen Schornsteinfeger – manchmal noch mit einem weiteren Angestellten. Eine Schornsteinfegerin sucht man im gesamten Landkreis bislang leider vergebens. Laut EU-Recht müssen Schornsteinfeger alle sieben Jahre ihren Bezirk wechseln. Zu früh, findet Ralf, denn erst nach rund zehn Jahren sei man wirklich fit in einer Gegend. Außerdem ist nie sicher, ob man den Bezirk, auf den man sich bewerbe, auch wirklich bekomme. Mit etwas Pech würde man so weit wegversetzt, dass man plötzlich einen unpraktischen und furchtbar langen Arbeitsweg habe. Durch die Teilnahme an Fortbildungen können Schornsteinfeger Punkte sammeln, die die Chance erhöhen, dass bei der nächsten Bewerbung in Bezug auf den Wunschbezirk Rücksicht genommen wird. Ralf hat bislang Glück: Durch eine Menge angesammelter Punkte kann er seinen ersten Darmstädter Bezirk, der das Paulus- und Komponisten-, das Martinsviertel, die Innenstadt und Teile von Bessungen umschließt, bis heute behalten. Insgesamt gehören etwa 1.800 Liegenschaften (Häuser, Wohnanlagen und Betriebe) dazu.

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Der Hüter der Schlüssel und Kamine von Darmstadt

Mittlerweile kennt Ralf Darmstadt wie seine Westentasche. Wenn ihm eine bestimmte Adresse genannt wird, vergeht nur ein Sekundenbruchteil, bis ihm einfällt, wie im dazugehörigen Innenhof zu einer bestimmten Jahreszeit die Sonne einfällt. Bei jedem Haus, das zu seinem Bezirk gehört, weiß Ralf auf Anhieb, wie viele Parteien es bewohnen und ob er für den entsprechenden Heizungskeller einen Schlüssel hat oder nicht. Pro Arbeitstag hat Ralf mindestens zwei Hände voll Schlüssel dabei. Mit ihnen gelangt er in die Wohnhäuser, damit er dort Heizungsräume und Schornsteine überprüfen kann.

Neben der regelmäßigen Überprüfung alter Feuerstätten gehören auch die Abnahme neu errichteter Feuerstätten sowie das Prüfen von Heiz- und Abzugsanlagen auf bestimmte Richtwerte zu Ralfs Aufgaben. Wenn in seinem Bezirk ein neues Restaurant eröffnet, ist er der Erste, der überprüft, ob der Filter der neu eingebauten Dunstabzugshaube den Vorgaben für die Grenzwerte entspricht. Will das Restaurant auch Burger anbieten, muss filtertechnisch nachgerüstet werden. Es ist die Vielseitigkeit der Aufgaben, wegen der Ralf seinen Job so liebt. Er steigt auf Einfamilienhäuser, auf die Kirche, auf den Karstadt. Und zwar bei jedem Wetter. Am liebsten seien ihm die Dächer in der Schlossgartenstraße, weil er von dort die beste Aussicht habe. Im Herbst und im Frühjahr sieht er die Wildgänse über sich hinwegziehen. Die traditionelle schwarze Zunftkleidung, zu der auch ein Zylinder gehört, trägt der 57-Jährige dabei nicht jeden Tag. Meist greift er auf etwas modernere und leichtere Arbeitskleidung zurück, die ihn für Laien nicht sofort als Schornsteinfeger erkennbar macht. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht mehr so häufig wegen des Aberglaubens, das Berühren eines Schornsteinfegers bringe Glück, auf der Straße angefasst wird, wie noch in Mühlheim. Doch auch damals habe ihm das nie viel ausgemacht: „Ich habe mich einfach immer gefreut, wenn sich andere gefreut haben.“ Immer dabei hat er dagegen das klassische Kehrgerät sowie die Messgeräte, die er für seine Wartungen braucht – zum Beispiel das für den Kohlenmonoxidgehalt.

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Von Tauben, Fledermäusen und Dohlen

Manchmal findet Ralf tote Tauben im Schornstein. „Wenn sie hineinfallen, kommen sie leider nicht mehr raus, weil sie ja den Luftantrieb von vorne brauchen, um loszufliegen. Das tut mir dann immer sehr leid.“ Einmal stößt er beim Schornsteinfegen sogar auf eine Fledermaus – doch diese ist zum Glück noch am Leben und kann von Ralf befreit werden. Häufig nisten Dohlen in Schornsteinen, doch da sie unter Naturschutz stehen, lässt man sie in der Regel in Ruhe – es sei denn, durch Rückstau von Ruß oder Gasen drohe Gefahr für die menschlichen Bewohner eines Hauses. Bei seinen Hausbesuchen begegnet Ralf vielen Menschen und bekommt jede Menge Geschichten erzählt. „Ich höre viel zu“, sagt er. Ein weiterer Faktor, der für Abwechslung im Arbeitsalltag sorgt.

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Jeder Tag ein Kurzurlaub

Für seinen Beruf brauche es neben Schwindelfreiheit laut Ralf zudem eine gute Portion Selbstdisziplin und Wetterfestigkeit. „Für Couchpotatoes ist der Job nichts“, sagt er. Sein Arbeitsalltag beginnt um 6 Uhr 30. Bis zum Mittag ist er meist draußen unterwegs und erledigt alle Hausbesuche sowie Besichtigungstermine. Fortbewegungsmittel der Wahl ist für ihn das Fahrrad. Insgesamt drei Räder hat er in Darmstadt verteilt, die er wahlweise nehmen kann, je nachdem, welchem er am nächsten ist. Danach geht’s ins Büro, den Papierkram erledigen – „der einzige Wermutstropfen an meinem Job.“ Weil Ralf als selbstständiger Bezirksschornsteinfeger jede Woche einen Haufen Wartungstermine hat, die er nicht einfach so verschieben kann, ist es für ihn nie möglich, mehrere Wochen am Stück Urlaub zu nehmen. „Das Maximum war mal eine Woche für den Ironman auf Hawaii“, erzählt er. Und das, obwohl er schon immer gerne gereist ist und häufig wochenlang mit Zelt und Schlafsack in anderen Ländern unterwegs war. Doch dass das lange Reisen als Bezirksschornsteinfeger nicht realisierbar ist, mache ihm nichts aus. Über die Jahre hat Ralf eine ganz besondere „Urlaubsphilosophie“ entwickelt: Wenn er eine Stunde am Tag Fahrrad fahre, dann sei das für ihn wie ein Urlaub. Und weil er jeden Tag eine solche Stunde Radfahren, Schwimmen oder In-der-Natur-Sein einbaue, habe er quasi ständig Urlaub. „Ich bin ein Kurzurlauber jeden Tag“, sagt Ralf und wirkt dabei sehr zufrieden.

Wenn er nicht auf Dächer steigt, Schlüssel hütet oder Heizanlagen überprüft, ist Ralf Schilke gerne mit seinem Hund unterwegs oder trainiert für den nächsten Triathlon. Die Bewegung halte ihn am Leben, sagt er. Neben unzähligen Triathlons hat er auch schon an einigen Ironman-Wettkämpfen, der Königsdisziplin des Triathlons, teilgenommen – zuletzt 2015 bei der Ironman World Championship auf Hawaii. Ralfs Lebensphilosophie ist der beste Beweis dafür, dass für ein wahres Urlaubsgefühl aber kein Flugticket nötig ist. Das Glück ist oft nur einen Tritt in die Pedale entfernt.

 

Ab aufs Dach!

Es mangelt an Schornsteinfeger:innen-Nachwuchs! Infos zu den Ausbildungsmöglichkeiten gibt’s online unter:

zds-schornsteinfeger.de