Foto: Nouki

Ein geräumiges Zimmer, ein großer, einladender Holztisch und jede Menge Kerzen: Traurig sieht es nicht aus in Jacqueline Conrads „Trauerraum“ in Pfungstadt-Hahn bei Darmstadt. Im Gegenteil. Ich fühle mich sofort wohl, als ich ihr hier gegenübersitze.

Trauerbegleiterin wollte Jacqueline nicht von Anfang ihres Berufslebens an werden. Die gebürtige Quedlinburgerin macht zunächst eine Ausbildung zur Schriften- und Plakatmalerin. Als die Mauer fällt und sie mit ihren Eltern nach Darmstadt zieht, gibt es diesen Beruf hier schlicht und einfach nicht. Mit einer zweiten Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin in der Tasche arbeitet sie viele Jahre in einer diakonischen Einrichtung. Doch das Malen fehlt ihr: Ab 2000 konzentriert sie sich abermals auf den künstlerischen Bereich und fängt als Theatermalerin im Staatstheater Darmstadt an.

Mit den Themen Tod und Trauer kommt Jacqueline Conrad das erste Mal 2004 in Berührung, als eine junge Kollegin und gute Freundin bei einem dramatischen Brand ums Leben kommt. „Das war ein richtiger Schock“, erinnert sich die 55-Jährige. Um den Tod ihrer Freundin zu verarbeiten, beschäftigt sie sich lange und intensiv mit ihrer Trauer. Zwölf Jahre später tritt das Thema wieder sehr akut in ihr Leben. Nach dem Tod ihrer Tante – für Jacqueline „ein Fels in der Brandung“ – gerät sie in einen „sehr schlimmen seelischen Zustand“, wie sie selbst beschreibt. Vor allem das Gefühl, vor Trauer nicht mehr essen zu können, erlebt sie als bedrohlich. „Ich wusste“, sagt sie, „wenn mit mir jetzt auch noch was ist, wenn ich nicht esse und sterbe – das hält meine Mutter nicht aus.“ Für ihre Eltern und ihre Großmutter schafft Jacqueline Conrad es, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Den Tod ihrer Großmutter nur ein Jahr darauf erlebt sie als friedvoll. Doch nur knapp ein weiteres Jahr später verstirbt nach kurzer und schwerer Krankheit auch noch ihre Mutter. Drei schwere Verluste in kaum mehr als drei Jahren: „Da habe ich wirklich gedacht: Jetzt schaffe ich es nicht mehr alleine“, beschreibt Jacqueline Conrad ihre damalige Gefühlswelt.

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Von Trauer und Drachen

Schnell merkt sie: Ihre inzwischen nur noch männlichen Familienmitglieder haben eine andere Art, mit der Trauer umzugehen. Doch ihr fehlt der Austausch. Unterstützung empfängt sie von einer Trauerbegleiterin, die sie in Anspruch nimmt, und einer Trauergruppe, der sie sich anschließt. „Dieses Plaudern über das, was passiert ist, und zu erfahren, wie andere mit ihrem Verlust umgegangen sind – das hat Schleusen für mich geöffnet und mich in meinem eigenen Trauerprozess total vorangebracht.“ In der Trauerbegleitung fühlt sie sich am richtigen Platz. Denn: „Ich brauchte ja keine Therapie. Dorthin geht man, wenn man eine seelische Erkrankung hat. Aber Trauer ist ja keine Krankheit.“ Den Abschied von ihrer Mutter verarbeitet Jacqueline auch, indem sie ein Buch darüber schreibt. Es steht hier im Trauerraum in einem Regal, neben den zwei Kinderbüchern, die sie bereits verfasst hat.

Die Zeit in der Trauerbegleitung bringt Jacqueline Conrad auf eine Idee. „Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust: Das Soziale, also das Arbeiten mit Menschen, und das Künstlerische“, sagt sie schmunzelnd. Durch ihre jahrelangen Erfahrungen mit Tod und Trauer und, um ihre Arbeit am Theater durch etwas Soziales zu ergänzen, beschließt sie, selbst Trauerbegleiterin zu werden. Dieser Beruf setzt keine Ausbildung, sondern eine Qualifikation nach Standards des Bundesverbandes für Trauerbegleitung voraus. Diese erlangt sie durch die Teilnahme an mehreren intensiven Wochenendmodulen, an denen nicht nur jede Menge Lesestoff zu bewältigen ist und Methoden gelehrt werden, sondern auch Übungsgespräche unter den prüfenden Augen ihrer Dozentin stattfinden. Als Abschlussarbeit für die Qualifikation schreibt Jacqueline ein weiteres Buch: „Ylvi und der Drache“ erscheint im Juni 2024 im Selbstverlag. Es ist die märchenhafte Geschichte von Ylvi, die mit großer Trauer zu kämpfen hat, die in Form eines bedrohlichen Drachens über ihr schwebt. Durch das Bestehen verschiedener Aufgaben, die ihr von der „Seelenfrau“, einer Trauerbegleiterin, gestellt werden, gelingt es Ylvi, ihre Angst vor dem Drachen zu verlieren. Mit der Zeit wird er kleiner und schließlich werden die beiden Freunde.

Nicht selten erlebt Jacqueline Conrad, dass neue Klient:innen fragen: „Also, wie geht denn das mit der Trauer? Wie lange dauert das? Und wann geht das weg?“ Doch dass die Trauer weggehe, sei nicht das Ziel der Trauerbegleitung, erklärt Jacqueline. Trauerbegleitung sei eine Prozessbegleitung, in der betroffene Personen einen Umgang mit ihrer Trauer erlernen. „Es geht nicht darum, den Verstorbenen loszulassen, sondern ihn auch weiterhin Teil des eigenen Lebens sein zu lassen. Nur eben nicht mehr so, wie man ihn kannte, sondern in Erinnerungen, inneren Begegnungen und Ritualen.“

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Aus dem Aber ein Und machen

Die Trauerbegleitungsgespräche finden in dem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Trauerraum oder auf Spaziergängen statt und dauern rund eine Stunde. Die Arbeit mit den Klient:innen kann dabei so unterschiedlich sein, wie auch die Trauer absolut individuell ist. Es kann um Todesfälle gehen, die schon viele Jahre zurückliegen, während manche gerade erst geschehen sind. Auch Menschen, die aufgrund eines sich ankündigenden Todesfalls eine Art „vorgezogene Trauer“ empfinden, kommen zu Jacqueline Conrad. Mit einer Klientin reflektiert sie beim Spazierengehen intensiv über die Ehe mit ihrem verstorbenen Ehemann. Mit einer anderen verbringt sie die gemeinsame Stunde auf einer Friedhofsbank und hilft ihr bei der Überwindung, das Grab eines Angehörigen zu besuchen. Ganz wichtig ist es ihr, den Klient:innen mitzugeben, dass ein „Und“ sein darf: „Es ist essenziell, den Trauernden nicht ihre Gefühle abzusprechen. Ich würde niemals sagen: ‚Sie haben zwar Ihren Bruder verloren, aber hey, Sie haben doch noch Ihre Schwester.‘ Manchmal kommen Trauernde zu mir und sagen: ‚Heute hatte ich ein sehr schönes Erlebnis, aber eigentlich habe ich doch diesen schweren Verlust erlebt.‘ Und da ist es wichtig, aus dem Aber ein Und zu machen und die Gleichzeitigkeit zu akzeptieren. Also zu formulieren: ,Sie haben einen schweren Verlust erlebt und sie haben heute ein schönes Erlebnis gehabt.‘ All diese Dinge dürfen nebeneinander sein.“

Ohne eine gewisse spirituelle Sicht könne sie ihre Arbeit nicht machen, meint Jacqueline Conrad. Diese würde sie niemals jemandem überstülpen, aber sie helfe ihr dabei, ein positives Bild vom Tod zu bewahren. „Viele Menschen sagen über den Tod, er gehöre nun mal zum Leben. Das ist ein bisschen wie mit dem Wurmfortsatz am Blinddarm: Der hängt da halt irgendwie mit dran. Aber ich habe mal die verrückte These in die Welt geschickt: Vielleicht ist der Tod ja das Schönste, das wir erleben dürfen, eine Art Höhepunkt unseres Lebens? Wohin sterben wir? Wir wissen es nicht. Natürlich habe ich auch Respekt vor dem Tod und vor dem letzten Weg dorthin. Doch umso tröstlicher finde ich den Gedanken, dass es schön sein könnte, wenn es so weit ist, aus meinem Körper auszusteigen, der vielleicht alt und krank geworden ist. Ich mag für diesen Prozess gerne das Bild eines Schmetterlings, der eines Tages seinen zu eng gewordenen Kokon abstreift und das erste Mal seine Flügel ausbreitet.“

Goldene Strukturen auf blauem Grund

Wenn Jacqueline Conrad nicht arbeitet, klettert sie gerne – sowohl in der Kletterhalle als auch in der freien Natur, gerne auch mit Zelt. Das weite ihren Blick. Hinter ihr im Trauerraum hängt ein großes Bild: Goldene Strukturen auf blauem Grund, die einen Körper bilden, der sich aufzulösen scheint. Während unseres Gesprächs bleibt mein Blick immer wieder daran hängen. Es ist selbstgemalt, genau wie die Cover ihrer Bücher. Die Zusammenarbeit mit Menschen, Schreiben und Malerei. Ylvi und der Drache. Das große Und. Hier im Trauerraum scheint all das zusammenzufinden.

Tröster-Buch

Für alle, die auf der Suche nach einem Mitbringsel für jemanden sind, der in Trauer ist, kann „Ylvi und der Drache – Eine märchenhafte Erzählung von Liebe und Trauer“ eine tolle Alternative (oder Ergänzung) zum klassischen Blumenstrauß sein. Das Buch ist sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene geeignet und online über gängige Plattformen bestellbar (ISBN-13: 9783759749420).

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