Illustration: Max Strütt

Die Frage nach bezahlbarem, gutem und sozialem Wohnraum ist eine der schwierigsten unserer Zeit: Neben viel zu hohen Mieten verschärfen Diskriminierung und Pauschalisierung die Situation. Dem wirkt in Darmstadt die gemeinnützige Neue Wohnraumhilfe entgegen. Seit drei Jahrzehnten.

„Seit 1991 setzen wir uns dafür ein, dass Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, wieder in stabile Mietverhältnisse finden“, beschreibt Michèle Andiel, Referentin der Geschäftsführung, den zentralen Auftrag des gemeinnützigen sozialen Unternehmens. 65 Beschäftigte setzen sich dafür ein, die Herausforderung der sozialen Wohnnot zu meistern. Dabei fungieren sie als Sozialarbeiter:innen, Diplomat:innen und Makler:innen für die sogenannten „Zielgruppen der sozialen Arbeit“: Menschen, die aktuell ohne eigenes Dach über dem Kopf leben müssen, Opfer häuslicher Gewalt, Personen die aus Unterstützungseinrichtungen entlassen werden und Menschen, die auf der Flucht sind.

Dabei immer wichtig: Die Neue Wohnraumhilfe ist keine Erstanlaufstelle. Aktuell begleitet die Organisation circa 400 Mietverhältnisse, die meisten davon im Eigentum der Bauverein AG. Wer Mieter:in der Neuen Wohnraumhilfe wird, ist abhängig davon, wie dringlich die soziale Notlage ist, aber auch vom Wohnobjekt. Die Anforderungen an eine Wohnung sind eben unterschiedlich – und es reicht nicht, einen Menschen einfach irgendwie irgendwo unterzubringen, darauf kommt Michèle Andiel immer wieder zurück: „Das ist nicht unser Anspruch! Wir wollen stabile Verhältnisse schaffen und dafür muss eine Wohnung zu ihren Mieter:innen und deren Bedürfnissen passen.“ Das macht die Suche allerdings nicht leichter. Zudem kann die Neue Wohnraumhilfe keinen Wohnraum an- und an ihre Zielgruppen vermieten, wenn die Miethöhe nicht von den Sozialleistungsträgern als angemessen anerkannt wird. Das engt den Suchradius noch mal deutlich ein.

Kümmerer an der Schnittstelle zwischen Wohnungswirtschaft und Sozialarbeit

In drei weiteren Arbeitsbereichen wirkt das Team rund um Geschäftsführerin Doreen Petri dem sozialen Ungleichgewicht entgegen. Um Wohnraum halten zu können, ist oft auch die Soziale Mieterberatung notwendig. Hier beraten die Mitarbeiter:innen quasi eins zu eins die Mieter:innen der Neuen Wohnraumhilfe, aber auch kooperierender Wohnungsbaugesellschaften, um den Kern des Problems zu finden, direkt anzupacken – und so dauerhaft das Mietverhältnis zu stabilisieren. Und in ihrer Verantwortung gehen sie sogar noch einen Schritt weiter: Neben der aufsuchenden Sozialarbeit gibt es das sogenannte Lärmtelefon, eine Anlaufstelle für Lautstärke-Beschwerden und eine gut funktionierende Alternative dazu, dass die Polizei eingreifen muss. „Wir haben immer einen sozialarbeiterischen Ansatz, wir sind die Kümmerer“, erklärt Michèle Andiel. Auch dann, wenn alleine zu wohnen, zur Belastung wird.

Vermittelter Wohnraum ist nicht automatisch an eine ambulante Betreuung gekoppelt, doch auch diese kann die Neue Wohnraumhilfe zur Verfügung stellen. Es soll alles getan werden, damit die Mieter:innen bleiben und ein geregeltes Leben führen können. Und das in immer mehr Aufgabenbereichen, seit 2015 auch in der Hilfe für Geflüchtete. So ist die Neue Wohnraumhilfe Trägerin eines Erstwohnhauses, das bei voller Auslastung Platz für über 900 Menschen bietet. Hier ist wieder eine ganz neue Herangehensweise nötig, noch mal sensibler, vorsichtiger, immer mit dem Trauma und Kulturschock der Menschen im Hinterkopf. In den 30 Jahren seit seiner Gründung verzeichnet das Sozialunternehmen immer vollere Listen, immer mehr Not, immer mehr Wohnraum – aber immer weniger sozialen.

Wer bei dieser Arbeit nicht mit vollem Herzen bei der Sache ist, hält nicht lange durch. Und die, die es tun, sind voll ausgelastet. Deswegen tauschen sich die Kolleg:innen in regelmäßigen Team- und Supervisionssitzungen über ihre schwierige Arbeit aus. In besonders fordernden Fällen werden sie durch externe Expert:innen unterstützt. Die Lage scheint eher schlimmer als besser zu werden, allein beim Zuhören könnte Mensch zynisch werden. Doch begleitet alles, was Michèle Andiel sagt, der Unterton einer unbeirrbaren Hoffnung. Der Stolz auf die bisher so wichtige geleistete Arbeit mischt sich mit einer gesunden Trotzhaltung, die wohl nicht unbeteiligt daran ist, dass in den letzten Jahre so große Leistungen zur Stabilisierung der Gesellschaft erbracht wurden.

Gutes Wohnen für alle

Wie beispielsweise das Passivhaus „SozialPlus“, ein Bauprojekt in der Lincoln Siedlung. Nahezu zehn Jahre war das Projekt in der Planung, 2019 folgte der Erstbezug. Die Idee ist denkbar einfach: Sozialer Wohnraum, but make it sexy. Klimaschutz, Energieeffizienz und höchster Wohnkomfort sind Anforderungen, die nicht unbedingt mit sozialem Wohnen in Verbindung gebracht werden. Hier wird mit dem Stigma gebrochen und gutes Wohnen für alle ermöglicht. Für einen monatlichen Warmmietpreis von rund 8,50 Euro pro Quadratmeter erhalten die Mieter:innen hier neu gebauten beziehungsweise frisch sanierten Wohnraum. Leicht war es nicht, aber das Projekt, das in enger Zusammenarbeit mit dem Darmstädter Planungsbüro „Faktor 10“ realisiert wurde, ist ein voller Erfolg. Bundesweite Anfragen erreichen die Neue Wohnraumhilfe, Fragen nach Unterstützung oder auch nur ganz banal: „Wie habt Ihr das bloß gemacht?!“ Das 10,3 Millionen Euro schwere Projekt – gefördert durch das Land Hessen, die Stadt Darmstadt und Darlehensgeber – ragt wie ein Leuchtturm aus dem Wohnungsnot-Sumpf heraus.

Neben dem Lob von unter anderem dem hessischen Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir und dem Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch ist der Neuen Wohnraumhilfe am wichtigsten, dass diese Mammutaufgabe erfolgreich durchgeführt werden konnte: „Eigentlich ist das ein irrsinniges Projekt für einen freien Träger wie uns, aber wir waren einfach mit so viel Enthusiasmus bei der Sache“, lacht Michèle Andiel, „und wir wollten einfach beweisen, dass es funktioniert.“ Der Erfolg des Passivhauses „SozialPlus“ zeigt, dass soziales Bauen so einfach wie genial sein kann. Und die Arbeit der Neuen Wohnraumhilfe im Allgemeinen macht immer wieder deutlich, dass die Diskriminierung sozialer Not und die Abschottung derer, die keine Chance auf dem freien Wohnungsmarkt haben, das Resultat der elitären Vorstellung sind, Wohnraum müsse Mensch sich verdienen – und wer keinen habe, der sei schon selbst schuld. Und wer jetzt noch die Aussage „Da kann man halt nichts machen“ unterschreiben kann, der möge diesen Artikel bitte noch einmal lesen.

 

Euer Wohnraum kann sozial werden!

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