Foto: Esther Horvath

Über Antje Boetius und ihre Abenteuer berichten Zeitungen, Radio- oder TV-Sender mittlerweile fast täglich. Die Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts ist Deutschlands bekannteste Meeresbiologin und gehört zu den wenigen Menschen, die tausende Meter hinab in die Tiefsee getaucht sind. Im September startet ihr Institut die größte Nordpol-Expedition aller Zeiten. Bei dem „Mosaic“ genannten Projekt werden sich rund 600 Menschen aus 17 Ländern mit dem Eisbrecher „Polarstern“ in der Arktis festfrieren lassen und dann über ein ganzes Jahr mit dem Packeis über den Nordpol driften.

Gerade war Boetius auf der „Polarstern“, als das Schiff an der Schelfeiskante der Atka-Bucht in der Antarktis anlegte. Bis April erkunden die Forscher auf dem Schiff nun das Leben am Meeresboden unter dem Larsen-C-Schelfeis, das bis zum Abbruch des riesigen Eisbergs „A68“ vor zwei Jahren für die Menschheit unerreichbar unter hunderten Metern Eis verborgen lag. Dem P-Magazin soll Boetius aber zunächst von ihren Erfahrungen an einem viel nahe liegenderen Ort berichten: Darmstadt. Hier ist die Tiefseeforscherin aufgewachsen.

 

Frau Boetius, erinnern Sie sich noch an Ihre Grundschulzeit?

Ich ging in die Schillerschule im Martinsviertel, ich erinnere mich an alles: An den Schulweg von der Lauteschlägerstraße, an den Blockflötenkurs, an meine erstes Mal verliebt sein – mir hatte es ein spanischer Mitschüler angetan, der sich den Arm gebrochen hatte. [lacht]

 

Was verbinden Sie heute noch mit Darmstadt?

An Weihnachten besuche ich hier meine Mutter. Dann denke ich immer an die Jugend und ans Erwachsenwerden. In meiner Abi-Gang habe ich tolle, lebenslange Freundschaften geschlossen. Und wenn ich das Hessische höre, fühle ich mich einfach zu Hause. Dann freue ich mich. Ich habe eine zeitlang versucht, auch immer noch mal in das Darmstädter Nachtleben einzutauchen – soll heißen, in die „Krone“ zu gehen. [lacht]

 

Was ist Ihr Darmstädter Lieblingsort?

Das ist der Spaziergang über Mathilden- und Rosenhöhe zum Oberfeld. Dort im angrenzenden Wald habe ich mit meiner besten Schulfreundin Leonore zu unserer Sturm-und-Drang-Zeit gesessen und Gedichte geschrieben.

 

Die Literatur verbindet Sie auch mit ihrem Vater, Henning Boetius, der Schriftsteller ist, und mit dem Sie 2011 das Buch „Das dunkle Paradies – Die Entdeckung der Tiefsee“ veröffentlicht haben.

Ja, er hat mich als Kind mit viel Literatur versorgt, vor allem Seefahrer-Romane, die ich liebte. Er war Adorno-Schüler an der Universität Frankfurt und hat dann in dieser wilden Zeit – den 70er-Jahren – festgestellt, dass er Künstler ist und frei sein muss. Meine Eltern trennten sich früh, aber da war immer Kontakt. Mein Vater war sehr naturwissenschaftlich interessiert, schrieb Sachbücher, aber vor allem Romane. Es war eine besondere Erfahrung, das Tiefsee-Buch zusammen zu schreiben. Mit seiner Kunst, mit der bildhaften Sprache hat er aus meinen wissenschaftlichen Erkenntnissen noch viel mehr herausholen können.

 

Sie wollten ja ebenfalls nie ein bürgerliches Leben führen, sondern Abenteurerin werden …

Als Kind habe ich davon geträumt, zur See zu fahren, die Meere von innen zu entdecken. Mein Großvater, der Vater meines Vaters, war Seefahrer und hat unglaubliche Abenteuer erlebt, von denen er uns Kindern immer erzählt hat. Seine Beschreibung vom Kampf mit den Naturgewalten, den Wellen, aber auch der Teamarbeit an Bord: „Eine Hand das Schiff, ein Hand die Mannschaft“, das hörte sich für mich aufregend und toll an. Auch die Idee, über das Meer hinweg ferne Länder zu erkunden. Und so habe ich schon als Kind gedacht: Entdecker zur See – das wäre doch ein guter Beruf.

 

Der Bereich in der Wissenschaft, in dem Sie heute arbeiten, ist ja tatsächlich zusammen mit der Raumfahrt noch der letzte, der mit klassischem Abenteurertum verbunden ist.

Das würde ich so nicht sehen – Entdeckungen und der oft abenteuerliche Weg dahin liegen ja überhaupt der Forschung zugrunde. Sei es, dass wir genetische Informationen in Organismen oder Teilchen im Universum zu verstehen versuchen, als Forscher sind wir unterwegs, die Grenzen des Wissens zu verschieben. Natürlich gibt es in der Tiefsee- und Polarforschung dabei besonders viel Unentdecktes. Überhaupt ist es erstaunlich, wie viele Geheimnisse unsere Natur noch birgt.

 

Foto: Esther Horvath

Aber auf die Art, wie sie etwas entdeckt, hebt sich Ihre Forschung doch deutlich von der Laborarbeit ab.

Natürlich ist es etwas Besonderes, wenn man zur See fährt, in die Tiefsee tauchen kann und am Nordpol auf dem Meereis herumstiefelt. Wenn man nicht dazu geboren ist, im Büro rumzusitzen, sondern diesen Drang hat, persönlich die extremen Landschaften der Erde zu erforschen, dann ist das wirklich ein toller Job.

 

Mit Ihrer Leidenschaft und Begeisterung bereichern Sie ja ständig so viele andere, fachfremde Menschen. Woher kommt Ihr Mitteilungsbedürfnis?

Ich reagiere einfach nur auf die Nachfrage, derzeit ist das Interesse an der Meeresforschung enorm hoch, wahrscheinlich, weil mehr Menschen wahrnehmen: Es geht jetzt darum, die Zukunft des Ozeans zu sicher. Eigentlich war ich kein Abenteuerkind. Statt wie meine Klassenkameraden im Watzeviertel auf den Straßen unterwegs zu sein, bin ich zu Hause in Bücher eingetaucht. Ich habe manchmal die ganze Nacht durchgelesen. Und erzählt habe ich schon immer gerne – für meinen Bruder habe ich Gruselgeschichten erfunden. Als Doktorand habe ich gemerkt, dass andere Menschen mitzunehmen, zu begeistern, Zuspruch und Feedback zu bekommen, mir selbst und meinem Job gut tut. Daher halte ich gerne Vorträge.

 

Aber heute hört Ihnen nicht nur Ihr Bruder zu.

Das ist ein tolles Gefühl, wenn man bei Vorlesungen – manche sogar mit über Tausend Leuten – merkt, dass alle zuhören, dass etwas von der Forschung bei den Menschen so direkt ankommt. Gerade hatte ich einen Workshop mit Astronauten, die auch von der enormen Nachfrage nach Vorträgen berichteten. Die Leute wollen einfach wissen: Wo geht es mit unserer Welt hin, wie funktioniert Wissenschaft, was erlebt man in fernen Regionen? Als Tiefseeforscherin soll ich immer wieder davon erzählen, wie es sich anfühlt, viele Tausend Meter hinabzutauchen, wie es einem dabei geht, aber auch, wie das technisch funktioniert.

 

Jetzt müssen Sie uns aber auch davon erzählen!

Erst mal wartet man sehr lange von der Idee zum Moment des Abtauchens. So eine Expedition ist ja sehr teuer und aufwendig. Da muss man viele Jahre Geld einwerben, und das Schiff, ein Team zusammenstellen, ganz viel packen und vorher schon lauter Schwierigkeiten dabei überstehen. Wenn man dann auf See ist, geht es erst mal um die konkrete Zeitplanung, oft bringt das kurzfristig schlechte Wetter oder Technikprobleme alles durcheinander. Aber wenn es dann endlich so weit ist, und man weiß, heute ist der Tauchtag, dann beginnt das Glück. Wenn man sich dann nach dem Tauchbriefing und mit den ganzen Zetteln mit allen Aufgaben, die man erfüllen muss, ins U-Boot setzt und vom Kran raus ins Meer gehoben wird, was sich erst mal sehr bewegt anfühlt, dann ist man etwas aufgeregt und denkt: Habe ich jetzt alles eingepackt, alles vorbereitet? Dabei machen die Piloten noch lauter Tests, ob alle Systeme funktionieren und auch kein Wasser reinkommt, bis man dann endlich bei 50 Metern ist.

 

Also immer noch nicht in der Tiefsee.

Da ist man noch in diesem unglaublichen Blau des Meeres und die Fische schauen durch die Bullaugen herein. Fast, als wäre man selbst im Aquarium. Wenn man dann abtaucht, wird es ganz schnell stockduster, so ab 500 Meter Tiefe. Dann kommt mein absolutes Highlight: In dieser schwarzen Welt funkelt es auf einmal um einen herum, weil die meisten Tiere ihr eigenes Licht anhaben, und dann sitzt man da in einem Feuerwerk wie an Silvester, von Lebewesen, die man sonst nicht sehen kann. Dann bin ich immer der glücklichste Mensch der Erde. Da denke ich: Wie ist das möglich, dass ich das jetzt bin, die das macht? Denn es ist ja so, dass mehr Menschen ins All fliegen als die Tiefsee besuchen.

 

Und das reiben Sie dann den Astronauten unter die Nase?

Ich war gerade mit zwei anderen Tiefseeforschern zur 200-Jahr-Feier der Universität von Halifax in Kanada eingeladen, um mit drei Astronauten darüber zu debattieren, welcher Beruf spannender ist. Aber in Wirklichkeit finden Astronauten die Tiefseeforschung cool und Tiefseeforscher die Astronautik. Wir mussten uns sehr bemühen, darüber richtig zu streiten.

 

Wer hat gewonnen?

Wir haben alle zusammen sehr viel Applaus gekriegt. Doch einige Kinder haben gesagt, weil die Ozeane so vermüllt werden und in Anbetracht des Klimawandels würden sie es nicht einsehen, dass die Erwachsenen im Weltall rumfliegen, wenn es auf der Erde so viel mehr Probleme zu lösen gibt. Aber es ist eben unsere Aufgabe, das Wissen grundsätzlich zu vermehren. Man kann nicht warten, bis alle Probleme gelöst sind, bevor wir das Universum erkunden.

 

Inwiefern beschäftigen Sie sich am Alfred-Wegener-Institut mit der Vermüllung der Meere?

Mein Institut ist da weltweit federführend. Unsere Forscherinnen und Forscher haben da wirklich viel geschafft, zum Beispiel die erste Analytik, mit der man bestimmen kann, woher das Plastik kommt, welche Materialien wo im Meer verbleiben, welche in die Tiefsee fallen und wohin sich die Mikroplastikpartikel eigentlich noch verteilen.

 

Wenn die EU Plastikeinweggeschirr verbietet, ist das zielführend oder nur Symbolpolitik?

Es ist an sich wichtig, aber auch als Symbol. Es ist wichtig, Zeichen zu setzen und auch mal Dinge zu tun, damit sie getan und gesehen zu werden. Den Hambacher Forst gleich zu retten, wäre zum Beispiel ein gutes Symbol der Politik gewesen, im Sinne von: Wir haben es verstanden, es geht nicht so weiter mit der Nutzung der Kohle. Plastikstrohhalme und andere Einwegartikel zu verbieten, ist aber nicht nur symbolhaft, sondern ein wichtiger Beitrag, um die Müllansammlung in den Meeren einzudämmen. In der EU ist der Verbrauch an Einwegmaterialen höher als sonst wo in der Welt und kein Mensch braucht Tüten oder eine Gabel, die er nur einmal benutzt, aber die chemisch so beschaffen ist, dass sie 500 Jahre in der Natur liegen bleibt.

 

Der Chef der Europäischen Weltraumorganisation, Johann-Dietrich Wörner, hat ja als ehemaliger TUD-Präsident auch Darmstädter Wurzeln. Kennen Sie sich?

Ich habe schon eine Reihe von ESA-Leuten kennengelernt und auch schon einige Konferenzen besucht, an denen Johann-Dietrich Wörner ebenfalls teilgenommen hat, aber wir haben noch nie miteinander gesprochen. Das müssten wir tatsächlich mal tun. Zuletzt habe ich mit dem Astronauten Thomas Reiter überlegt, wie wir Instrumente in der Tiefsee und der Raumfahrt energieunabhängiger bauen können und wie sie länger autonom arbeiten könnten. Das war ein spannendes Gespräch.

 

Dann hätten Sie ja eigentlich gar nicht aus Darmstadt weggehen brauchen?

Dass Raumfahrt in Darmstadt ein Riesenthema ist, war schon zu meinen Abizeiten klar. Aber trotzdem wollte ich hier weg. Denn mit Meeresforschung ist es hier nicht so weit her und bei den Überlegungen, wie viel Neues es im Woog zu entdecken gibt, da bin ich ganz schnell auf den Trichter gekommen, besser nach Hamburg zu gehen. [lacht]

Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

Drei Darmstädter Am Südpol

Foto: Esther Horvath

Kurz vor Redaktionsschluss schreibt uns Boetius: „Ich war gerade in der Antarktis bei der Neumayer-Station, wir waren drei Darmstädter bei der Inspektionsreise – bestimmt war das die höchste Dichte Darmstädter auf dem antarktischen Kontinent aller Zeiten :-)“. Auf dem Bild zu sehen: Der Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, Michael Meister, zusammen mit Direktorin Antje Boetius und dem Chef des Karlsruher Instituts für Technologie, Holger Hanselka, vor der deutschen Antarktis-Station. Weil das Festland um den Südpol bis auf ein paar Forschungsstationen unbewohnt ist, dürfte Darmstadt damit tatsächlich um einen Rekord reicher sein. Die „Neumayer III“-Station feierte gerade ihren zehnten Geburtstag.

 

Vita Boetius

Antje Boetius wurde 1967 in Frankfurt geboren und ist mit ihren Eltern kurz vor ihrer Einschulung von Sprendlingen nach Darmstadt gezogen. Nach ihrem Abitur an der Justus-Liebig-Schule studierte sie in Hamburg sowie San Diego und promovierte in Bremen. Sie arbeitete am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen und an der Jacobs Universität Bremen. Seit 2017 leitet sie das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Boetius wurde 2009 mit dem Leibniz-Preis, der höchsten deutschen wissenschaftlichen Auszeichnung, bedacht. Außerdem hat sie die Gauß-Medaille erhalten und wurde zuletzt mit dem Communicator-Preis und dem Deutschen Umweltpreis geehrt.