P-Autorin Antje Herden war als empathischer Mensch sechs Mal zu Besuch in Lützerath – und ist bis heute beeindruckt, „wie lebenswert ein solcher Ort für jeden Menschen ist“. Sie hat viel aus „Lützi“ mitgenommen, emotional, gedanklich und sprachlich. | Foto: Antje Herden

„Ich lebe jetzt in Lützi“, schrieb Basili im November 21. Das Dorf in NRW sollte dem Braunkohletagebau weichen. Nur Eckardt, der letzte standhafte Bauer, hatte noch einen Hof. In seinem Garten, den umliegenden verlassenen Gebäuden und auf den hohen Bäumen hatten Aktivisti ein neues Lützerath errichtet – ein Ort der Möglichkeiten und der Gemeinschaft, im Kampf gegen RWE und für das 1,5 Grad-Ziel.

Der emotionale Bogen meiner sechs Besuche spann sich von sommerlichen Festivalfeelings und großer Hoffnung über Melancholie, brutale Gewalterfahrung bis zu absoluter Verzweiflung.

Das erste Mal fuhr ich im April 22 hin, im Auto Campingsachen, im Herzen gemischte Gefühle. Zwar war es erlaubt, Bauer Eckardt zu besuchen, und die Mahnwache am Dorfeingang öffentlicher Raum, aber der Rest gehörte RWE. Betreten verboten!

Ich leistete zivilen Ungehorsam, das Recht jeder Bürger:innen einer Demokratie, Gesetze zu brechen, wenn geltendes Recht Unrecht beschützt. Dass die Kohle unter Lützerath nicht gebraucht wird, bewies schon eine Studie des Öko-Instituts von 1994 – und auch aktuelle Studien wie „CoalTransitions“, von „Fossil Exit Group“ und „Aurora Energy Research“. Dass RWE Studien wie „NRW.Energy4Climate“ vorlegte, die von Wissenschaftler:innen widerlegt wurden, dass mit dem Verbrennen der 290 Tonnen das 1,5-Grad-Ziel nicht mehr erreicht werden kann, ist nachzulesen. Dieses Ziel zu erreichen, dazu verpflichtete sich aber die Bundesregierung im Pariser Klimaabkommen 2015. Darauf hinzuweisen ist nicht nur Recht, sondern Pflicht.

Im Kreisel die erste Ausfahrt. Auf dem Verkehrsschild war Lützerath schon entfernt worden. Jemensch hatte es mit Marker wieder hingeschrieben. Für mich das perfekte Symbolbild. Intensiver als alle Schaufelbagger, die Anfang 23 die Medien fluteten.

Diese Monster sind 100 Meter hoch und 24/7 in Betrieb. Das Geräusch der Schaufeln wie weißes Rauschen über dem Dorf. Daneben hörte mensch Vogelgesang und Insektengebrumm. Der Natur waren menschliche Kämpfe egal. Sie eroberte sich zurück, was brach lag. Daneben der gräßliche Mondkrater, der alles verschluckte. Schließlich auch die Käfer, die wilden Rosen und die Haselmaus. Übers Jahr sah ich die Kante mit unvorstellbarer Geschwindigkeit anrücken. Der Anblick jedes Mal ein Schock.

Auf einem ersten Dorfspaziergang entdeckte ich die „Küfa“ (Küche für alle), den Fahrradverleih, die Pressehütte, das Veranstaltungszelt, Holzhütten, Baumhäuser, Sitzgelegenheiten und Sanitäranlagen. Überall Kunst, Graffiti, bunte Wimpel. Der Sommerfestival-Vibe wurde gestört, als ich „mein“ Zimmer in der „Paula“ bezog. Ein Plakat erklärte die Squat-Aufgaben im Falle eines Polizeieinsatzes. Die „Paula“ wurde von vielen Aktivisti bewohnt. Es gab sogar Strom und eine warme Dusche. Im Dachzimmer über dem Regenbogen, der den Hofeingang zierte, lebte sonst Basili mit ihren „Bezugis“ [Menschen, die in jeder Situation aufeinander achten]. Nachts teilte ich mir die Matratze mit unterschiedlichen Menschen. Im Dezember die Garantie, bei minus 10 Grad Celsius nicht zu erfrieren. Später in den Medien zu sehen, wie der Regenbogen und unser Zimmer wider jede statische Logik von einem Abrissbagger mitten aus dem Gebäude herausgebissen wurden, brach mein Herz. Eines von vielen Malen.

P-Autorin Antje Herden war als empathischer Mensch sechs Mal zu Besuch in Lützerath – und ist bis heute beeindruckt, „wie lebenswert ein solcher Ort für jeden Menschen ist“. Sie hat viel aus „Lützi“ mitgenommen, emotional, gedanklich und sprachlich. | Foto: Antje Herden
Foto: Antje Herden
Foto: Antje Herden

Abends saßen wir an den Feuern der Nachtwachen. Obwohl viele Straight Edge (vegan, ohne Drogen, Tabak und Alkohol, sogar ohne Kaffee) lebten, gingen Weinflaschen herum. Es wurde in absoluter Selbstverständlichkeit alles geteilt. Ich lernte die Menschen hier kennen. Aktivisti mit „Mumme“, deren Gesichter ich nie sah, den 15-jährigen Schüler aus dem Nachbardorf, der jedes Wochenende in Lützi sein durfte, wenn er sonst nicht schwänzte, Personen mit Designbüros oder unklarer Vergangenheit, Sozialarbeiter:innen, emeritierte Professor:innen, Abiturient:innen. Sie verband der aktive Kampf für das Klima und eine bessere Gesellschaft, in der Gemeinschaft zählt, anarchistische oder basisdemokratische Prozesse entscheiden, Kapitalismus und Patriarchat überwunden sind. Nirgendwo sonst führte ich bessere Gespräche.

„Lützi ist ein Safe Space. Alle sind willkommen. Wir übernehmen keine herkömmlichen Regeln. Nicht die des Patriarchats, des Kapitalismus oder die von Cis-Männern gemachten“, erklärte Basili. Wie lebenswert ein solcher Ort für jeden Menschen ist, erlebte ich in Lützerath.

Manche Person hinter der Mumme hatte Grund, verborgen zu bleiben. Doch eigentlich geht es darum, dass niemensch soziale oder ökologische Kämpfe für sich persönlich austrägt, sondern als Teil der Gemeinschaft. Gesichter sind unwichtig. So werden auch Hierarchien und Held:innengeschichten vermieden. Ich trug trotzdem keine. Das erschien mir seltsam anmaßend. Nur einmal wickelte mir jemensch einen Schal ums Gesicht.

Wir saßen im einzig warmen Raum zusammen. Die Stimmung eine Mische aus Gemütlichkeit und Anspannung. Weihnachten und die Räumung nahten. Branko performte „Wish you were here“, als die Funke knackte. „Secus“ an der ersten Barrikade. Ich hatte weder Workshops in Konfliktmanagement noch in Verteidigungsstrategien mitgemacht. In dieser Nacht wurde nur Ersteres gebraucht. „RWE ist eben ihr Arbeitgeber. Aber die Secus kommen ohne Uniform auf unsere Dorfspaziergänge und Feste.“

Feste gab es so einige. Zum kurdischen Kinderfest kamen 5.000 Menschen übers Wochenende. Die Effizienz, mit der dafür eine Infrastruktur aufgebaut wurde, ließe jede:n Festivalorganisator:in erblassen. Die Bewohnis von Lützerath versammelten eine unfassbare Menge unterschiedlichster Skills. Eine funktionierende alternative Gemeinschaft war hier kein Traum, sondern gelebte Realität. Jede:r gab, was sie:r konnte.

Foto: Antje Herden
Foto: Antje Herden

Baumkletterkurse zum Beispiel. Echo prüfte jeden Tag die Knoten der Traversen und Seile. „Das müssen Menschen auch wieder neu lernen. Dass keine offiziellen Institutionen für die eigene Sicherheit notwendig sind.“ Grundelemente echter Anarchie. Jede:r achtet auf jede:n. Jede:r kann sich auf jede:n verlassen. Mensch stelle sich vor, what a wonderful world this would be!

In Lützi vernetzten sich soziale und ökologische Aktivisti aus der ganzen Welt. Es war ein sicherer Raum, um sich zu informieren, voneinander zu lernen, um Pläne zu schmieden und wirkmächtig zu bleiben – ein konkreter Ort für globalen Klimaschutz und soziale Veränderungen. In Workshops, Seminaren und Vorträgen wurde hier Wissen vermittelt. Widerstandskämpferinnen aus dem Iran erzählten von ihrem Kampf. Sie hatten zwei Orte dafür gewählt – Berlin und Lützerath.

Lützerath war kein Symbol. Hier lebten viele Menschen in echter Gemeinschaft, kämpften zusammen für Menschlichkeit und unseren Planeten, ein besseres Leben für alle. Egal, ob die Sonne schien, ob es regnete oder fror, ob der Bäcker Torte spendete oder nur noch Rüben im Küchenlager schrumpelten. „Was glauben die Leute denn? Niemensch macht es Spaß, im Regen oder bei Frost in den Bäumen zu hängen, Angst und Hunger zu haben“, sagte Basili. In einem Interview des Lützi-Radios Aalpunk fragte Echo die Aktivisti: „Wo bist Du nach der Revolution?“ „Fünf Tage in der ,Wilden Renate‘ [Technoclub in Berlin]“, antwortete eine Person und lachte.

Dennoch wurden die Aktivisti in der Öffentlichkeit oft als anders, seltsam, gar kriminell dargestellt. Unverständnis und Ablehnung begegnete ihnen. Weil sie unbequem waren? Daran erinnerten, dass wir mit der vorherrschenden kognitiven Dissonanz, die uns trotz besseren Wissens ignorant handeln lässt, alle den Bach runtergehen werden?

Ich war ihnen dankbar für ihr Tun und sehr gerne unter ihnen. An der Kante zusammen Kaffee trinken, gemeinsam für alle kochen, auf dem Acker ackern, Workshops planen und Möglichkeiten erörtern. Liebe spüren und umarmt werden. „Natürlich haben wir Angst. Vor der Zukunft, aber auch ganz direkt. Vor der Polizei, der Ablehnung der Bevölkerung. Wir müssen uns viel umarmen. Wir haben doch nur uns.“

Die Menschen in Lützi haben alles richtig gemacht. Auch medial auf allen Plattformen. Es heißt, eine Systemänderung braucht drei Prozent derer, die es anders machen, und eine im Grunde interessierte Masse. Das eigene Überleben sollte eigentlich Interesse genug sein. Doch es gelang nicht. „Warum kriegen wir die Menschen nicht her?“, fragte Basili Anfang Dezember.

Kurz danach waren alle da, das Amargeddon zu schauen. Wären sie vorher gekommen, hätte es das nicht geben müssen.

Zum Ende wurden auch die fancy Klamotten aus dem Freeshop getragen. Gespeist wurde der aus Kleiderspenden von Menschen, aber auch medienwirksam von Firmen wie Patagonia.

„Vier Monate Lützi und du bist ready fürs Berghain“, sagte Echo und probierte das aus. Es funktionierte tatsächlich.

Als Ende Dezember der Untergang nahte, als das Eis schmolz und Matsch alles überzog, schmiss Flitsch in glitzernden Highheels und einem lila Pelzjäckchen die Motorsäge an und schnitt den Asphalt der Dorfstraßen auf.

Foto: Antje Herden

Da waren Wasser und Strom längst abgestellt. Greenpeace spendete Solarzellen und Gas für die Küfa. Die Menschen trafen sich in einer großen Scheune. Die war mit gespendeten Heuballen ausgelegt und erinnerte schmerzhaft an eine Geschichte des Lukasevangeliums. Kerzen. Kunst an den Wänden. Kaffee und Tee. Die Küfaschichten kochten trotz allem dreimal täglich Köstliches. Die Stimmung war melancholisch und verzweifelt fröhlich. Niemensch glaubte, dass Lützerath, ihr Zuhause, zu retten sei.

Basili lag krank im Baumhaus. Die Räumung hatte begonnen, der Doppelzaun um Lützi stand. Niemensch hatte damit gerechnet, dass die schwer bewaffneten Hundertschaften schon am 2. Januar eindringen würden. Offiziell existierte die Mahnwache als legaler Ort bis zum 9. Januar. Viele der Bewohner:innen hatten vor der Räumung gehen wollen, um nicht zuschauen zu müssen, wie ihr Zuhause zerstört wurde. Nicht einmal dazu bekamen sie die Chance. Es blieb nur Verteidigung.

Am 14. Januar, als auch Gretas Schuhe im Lützimatsch versanken, als Zehntausende „Lützi bleibt!“ riefen, die sich vorher nie hatten blicken lassen, standen Basili, Echo, Flitsch und die anderen in der ersten Reihe. Untergehakt gingen sie langsam Schritt für Schritt auf Lützerath zu. „Wir wollten einfach nur nach Hause.“

Dort hockten nur noch Zwei in einem Tunnel und eine Handvoll auf den Bäumen. Mit brutalster Gewalt wurde der Heimweg der Aktivisti, der ein Schritt in unserer aller Zukunft gewesen wäre, verhindert. Wir standen viele Meter weiter hinten im Matsch. Ohne Netz, ohne Kontakt. Dazwischen die Anrufe der besorgten Eltern meiner Mitdemonstrant:innen. „Kommt nach Hause, das ist zu gefährlich.“ Es wäre zum Lachen gewesen, wenn wir nicht schon geheult hätten.

Das Foto von Basilis zerprügeltem Gesicht gab mir den Rest.

Als ich eine Woche später Echo und Basili aus dem verschneiten Ausweichcamp in Keyenberg abholte, waren sie wie gebrochen. „Scheiß auf Lützi lebt. Basili is dead.“

Ich fühlte die Enttäuschung, die Verzweiflung, sogar den Hass auf die anderen.

Foto: Antje Herden
Foto: Antje Herden

„Die kommen einen Tag her, brüllen ,Lützi bleibt!‘, zeigen zu Hause stolz ihre matschigen Schuhe. Aber das sind nur Aktivismustouristen, die nicht kapieren, dass wir hier wohnen, die uns das Essen in der Küfa wegfressen und unsere Klos vollscheißen. Die verstehen nicht, dass kontrollierte Proteste Regierungsstrategie sind, damit sie das befriedigende Gefühl haben, sie hätten was getan und wie geil doch Demokratie ist. Aber einmal auf die Straße zu gehen, ändert eben gar nichts.“

Auf Echos Jacke war „Do not go gentle“ (rage against the dying of the light / Dylon Thomas) gesprayt. Das hatte auch im Zimmer in der „Paula“ an der Wand gestanden. Basili trug ironisch eine Secu-Jacke. Ein Bild, das trotz allem auf krude Art Hoffnung machte.

Bei der Abfahrt blieb das Auto im Matsch stecken. Erschöpft dachte ich an Abschleppdienst, Zeit und Geld. Stattdessen halfen uns die Aktivisti innerhalb weniger Minuten. Ich musste lachen. Es ist so verdammt einfach: Den Karren kriegen wir nur gemeinsam aus dem Dreck. Bildet Banden!

Basili und Echo haben inzwischen neue Namen. Sie werden nicht aufhören zu kämpfen.

 

Protestsongs und Podcasts

Anticapital Branko: „Lützi lebt!“ … Mega Song mit großartigem Video!

Hubi Kochs Lützi-Doku: „Klima, Krimi, Kohle“

Podcast „Piratensender Powerplay“

Podcast „1,5 Grad“ mit Luisa Neubauer (Episode „Behind & Lützi bleibt!“ vom 9. März 2022)