Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Kulturelle Vielfalt gehört zu Darmstadt wie der Lange Lui, Verschenkekisten im Martinsviertel oder männerlastige Studentenpartys. Laut Bevölkerungsstatistik 2019 haben 21,1 Prozent der in Darmstadt lebenden Menschen eine nicht deutsche Nationalität. Das P möchte wissen, wie Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Darmstadt gefunden haben, diese Stadt erleben. Also reden wir über Integration in Darmstadt – mit den Experten für diese Thematik. Denjenigen, die schon lange ihr Leben „hier im Ausland“ navigieren, sich anpassen und Wege finden, ihren Horizont zu erweitern, um an mehreren Orten gleichzeitig dazuzugehören.

Awais ist 30 Jahre alt und Informatiker. Er kam 2013 aus Pakistan für sein Masterstudium an die TU Darmstadt und will bis heute nicht weg aus Darmstadt. Wir beide lernten uns in einer internationalen Studierendengruppe kurz nach seiner Ankunft kennen.

 

Awais, Du lebst seit acht Jahren in Darmstadt. Wie war der Anfang für Dich in Deutschland? War es schwer, sich zurecht zu finden?

Awais: In den letzten Jahren habe ich den Welcome Day der TU für neue internationale Studierende bei Tutor International mit organisiert. Da besprechen wir am Anfang mit den neuen Studis immer das Thema Kulturschock. Der Verlauf eines Kulturschocks beginnt typischerweise mit einem glücklichen Anfang, was wir die Honeymoon-Phase nennen. Bei mir war das auch so. In den ersten Monaten war ich viel unterwegs mit anderen internationalen Studierenden. Und durch das Studium konnte ich viele Leute kennenlernen – die aber alle aus meiner eigenen Kultur waren. Das war schon eine Erleichterung, weil ich damals ja kein Wort Deutsch konnte. Also ja, meine ersten Monate waren sehr angenehm.

 

Und dann kam Dein „Rude Awakening“, Dein „böses Erwachen?

Ja, als alles ruhiger wurde und der Alltag anfing: Du hast den Unistress, du bist weg von zu Hause, du musst viel lernen, du bist ganz auf dich allein gestellt, niemand ist da, der dich unterstützen kann, wie ich es gewohnt war. Ich meine, zu Hause und auch an meiner alten Uni (in Islamabad) musste ich nie kochen oder den Haushalt machen. Und dann habe ich noch gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist, mit Leuten zu sprechen, ich meine einfach so mit Leuten auf der Straße quatschen, wie ich das in meiner Heimatstadt machen konnte. Es geht nicht nur um die Sprache, sondern auch um diese Art von Offenheit. Wobei ich jetzt sagen muss, dass die Leute hier in Darmstadt wirklich nett und freundlich sind, aber am Anfang spürst du diesen Unterschied einfach. Es gilt hier ja meistens „mind your own business“. Dabei ist es schwer, Kontakte zu knüpfen.

 

Das war also die erste Hürde. Und wie hast Du Dich danach anpassen können?

Also ich würde sagen: Die ersten drei oder vier Semester habe ich mich an gar nichts so richtig angepasst. Ich bin weiterhin zu internationalen Veranstaltungen gegangen, aber ansonsten war ich wirklich nur mit Leuten aus meiner Kultur zusammen, aus Pakistan. Oder auch aus Indien – na gut, da war also doch etwas, wo ich meinen Horizont erweitert habe. Das ist etwas, was man hier lernt. Die Leute aus Pakistan und Indien merken: „Hey, wir sprechen die gleiche Sprache [Urdu/Hindi]. Wir kochen das gleiche Essen …“ Und so weiter. Meine Freunde aus Indien, das sind wahnsinnig tolle Menschen. Ich glaube, die meisten Leute aus Indien und Pakistan machen diese Erfahrung, wenn sie ins Ausland gehen.

 

Du warst also in Deiner kulturellen Bubble sozusagen … was brachte Dich da raus?

Es gab einen Punkt, eine Übergangszeit, als wir alle angefangen haben, über die Zukunft nach dem Studium zu reden. Ich hatte bis dahin nur einen Sprachkurs gemacht, der verpflichtend für unseren Studiengang war – und ansonsten konnte ich gar kein Deutsch. Unsere Kurse waren ja alle auf Englisch. Viele haben gesagt: „Ach wir sind Ingenieure, wir brauchen die Sprache nicht.“ Damals fing ich an, als internationaler Tutor zu arbeiten, und die Leute im Team, die die besten Ideen hatten, die selbstbewusst waren, konnten Deutsch. Und dann dachte ich: Das will ich auch. Ich habe mit meiner Familie darüber gesprochen, dass ich vielleicht hier bleiben möchte – und die waren okay damit. Ich bin der Jüngste in der Familie, also dachten sie wohlwollend: „He’s the third one, who cares?“

 

Du hast zwei Brüder, oder?

Genau, ich bin das dritte Kind. Ich habe zu diesem Zeitpunkt wirklich gemerkt, dass ich es hier mag. Das war kein Honeymoon mehr … ich konnte mir aber einfach vorstellen, hier in Deutschland zu bleiben. Und ich akzeptierte: Hey, ich bin nicht in Amerika oder in UK oder Australien. Ich bin hier. Da fing es also an. Ich wurde aufmerksam, habe darauf aufgepasst, was ich ändern kann, kulturell gesehen, aber auch persönlich. Wie kann ich mich weiterentwickeln? Ich meine, sich zu verbessern, ist ja sehr subjektiv, jede/r muss für sich herausfinden, was das heißt. Aber damals habe ich angefangen, mehr Kontakt zu Deutschen zu suchen. 2015 war ich an der Uni Teil eines Teams, das Geflüchteten geholfen hat, sich an der Uni zu orientieren. Zu dieser Zeit musste ich noch verstärkt darüber reflektieren, wie ich den Leuten dabei helfen kann, sich zu integrieren, wenn ich es selber nicht bin? Das hat mich motiviert.

 

Wie bist Du überhaupt zum Studieren gekommen in dieser Zeit?

Manchmal habe ich den Eindruck, wenn Leute erfahren, wie lange ich für mein Master gebraucht habe, haben sie Mitleid mit mir, so nach dem Motto: „Der arme Kerl, der hätte schon so viel Geld verdienen können.“ Und ich denke dann: Vielleicht will ich gar nicht so viel Geld verdienen! Ich habe viel mehr außerhalb der Uni als in der Uni gelernt. Mein ganzes Leben habe ich gesagt bekommen: „Du musst Deinen Abschluss machen, dann musst Du einen guten Job kriegen, und dann Familie, Haus und so weiter.“ Das ist ja die Norm. Aber was ist normal? Normal ist einfach etwas, was vordefiniert ist. Aber wer hat das entschieden? Ich möchte nicht, dass diese Normen mein Leben definieren. Ich bin hier, um mein Leben zu leben. Also habe ich gesagt: Okay, mein Abschluss ist wichtig, aber es gibt andere Dinge, die auch wichtig sind. Ich kann mir ein bisschen mehr Zeit fürs Studium nehmen – und dann lerne ich vielleicht auch noch etwas über mich.

 

Meinst Du, Du hättest diese Erkenntnisse gehabt, wenn Du nicht ins Ausland gegangen wärst? Oder spezifisch in Deutschland?

Das kann man natürlich nie sagen. Aber ich würde mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit behaupten, dass es so nicht passiert wäre. Ich bin gereist und das Leben hat mir dafür ein Geschenk gemacht. Ich habe Dinge herausgefunden, die ich wahrscheinlich nicht gelernt hätte, wäre ich in meinem Heimatland geblieben.

 

Wie ist Darmstadt ein Teil Deines Lebens und wie bist Du ein Teil des Lebens der Stadt?

Ich kannte am Anfang meines Studiums so gut wie alle Studierenden aus Pakistan an der TU Darmstadt. Und man sieht, wie sie alle nach dem Studium nach Berlin, München, Stuttgart wegziehen. Und jetzt machen sie sogar schon Witze über mich. „Mann, Du wirst Darmstadt nie verlassen.“ Ich würde total gerne bleiben. Ich habe einen Job in Frankfurt, aber ich zögere irgendwie, aus Darmstadt wegzuziehen. Es ist wirklich meine zweite Heimat geworden. Ich kam sogar nach meinem letzten Besuch in Pakistan wieder hierher und hatte das Gefühl: „Aah, wieder zu Hause“ – und dann habe ich gedacht: „Nee, warte! Ich komme ja gerade von zu Hause …“ Die aktivste und bewussteste Zeit meines Lebens habe ich hier verbracht – und damit steht Darmstadt für mich auch in Verbindung. Ich liebe den Vibe dieser Stadt, die Leute sind einfach klasse. Es gibt wirklich nichts Negatives, was ich über Darmstadt sagen könnte.

 

Würdest Du sagen, dass Du integriert bist?

Ich glaube, noch nicht hundertprozentig …

 

Glaubst Du, es ist möglich, sich irgendwann hundertprozentig zu integrieren?

Ja, natürlich. Ich muss noch mehr auf die Sprache achten – und dann: Ja, natürlich.

 

Was würde Integriertsein für Dich bedeuten?

Wenn ich mich an den Ruhetag Sonntag gewöhnt hätte: Wenn ich sonntags aufstehe und gar nicht mehr daran denke, etwas einkaufen zu wollen. Wenn ich bereit bin, an meinem Sonntag gar nichts zu tun. Dann werde ich wissen: Ja, geschafft! [lacht.]

 

Vielen Dank, Awais – und alles Gute für Dich!

 

Darmstadts kulturelle Vielfalt in Gesprächen

Manchmal hat man an einem Ort direkt das Gefühl, dass man willkommen ist. So war es für mich, als ich 2010 aus Kanada für ein Auslandssemester nach Darmstadt kam. Aus diesem einen Semester ist ein Studium geworden – und mittlerweile ist Darmstadt mein Zuhause. Als Ausländerin will ich mich in meiner Stadt zugehörig fühlen, unabhängig davon, wo ich herkomme oder wie lange ich vielleicht bleiben werde. Als Leiterin von Integrationskursen frage ich mich, was es eigentlich heißt, integriert zu sein. Integration ist schließlich kein Ziel, das erreicht werden kann, sondern vielmehr ein Prozess – ein Prozess in Richtung einer vielfältigeren, multikulturellen Gesellschaft.

melanielipinski.com