Foto: Jan Ehlers

Es ist ein Paradoxon. Wenn wir Menschen unzufrieden sind, beschweren wir uns über die Entscheidungen anderer und garantieren: Wenn uns einer gefragt hätte, dann wäre jetzt alles besser! Der Ruf nach Mitbestimmung wird immer wieder laut, aber wenn wir gefragt werden, mitbestimmen, mitdiskutieren, wählen sollen – dann verstummen wir oft. Manchmal, weil wir es – häufig aufgrund mangelnder Informationen – plötzlich doch nicht besser wissen. Manchmal aber auch, weil wir nicht wissen, wie wir uns Gehör verschaffen sollen. Oder weil wir nicht darauf vertrauen, dass uns wirklich zugehört wird. Initiativen wie Fridays for Future offenbaren dagegen, dass gerade die junge Generation wieder Lust hat, wichtige Debatten zu führen und für ihre Werte einzustehen. Und das ist wichtig!

Der Wiener Politikexperte Edward Strasser sagte dazu im vergangenen Jahr im Interview mit der „Zeit“: „Die Probleme der Demokratie können nur mit mehr Demokratie gelöst werden, nicht mit weniger. Es gibt den wachsenden Wunsch nach Mitbestimmung, und das sollte man ernst nehmen.“ Immer mehr europäische Länder setzen deshalb – zumindest bei einzelnen Themen der politischen Agenda – auf Bürgerräte: Belgien, Frankreich und Spanien liefern dafür mehr oder weniger gelungene Beispiele.

In Deutschland sind Bürgerbegehren und Bürgerentscheide seit 2005 Teil des demokratischen Geschehens, wenn auch nur auf kommunaler Ebene. In Darmstadt spielte erstmals 2009 ein Bürgerentscheid eine gewichtige kommunalpolitische Rolle: contra der geplanten, schlussendlich doch noch abgewendeten Nordostumgehung. Danach wurde es wieder still um dieses politische Werkzeug. Manche Bürgerbegehren werden schlichtweg abgelehnt, etwa aus formalrechtlichen Gründen – wie ganz aktuell etwa der Klimaentscheid. Auch Volksabstimmungen werden eher selten anberaumt – zuletzt 2018, als es darum ging, die Hessische Verfassung upzudaten. Schade eigentlich, denn …

Bürgerbeteiligung fördert politische Prozesse, Zufriedenheit und Akzeptanz.

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2014 fördert Bürgerbeteiligung das Gemeinwohl und die Zufriedenheit von Bürger*innen mit der Politik, sie erhöht die Akzeptanz von politischen Entscheidungen und verhindert Fehlplanungen und Fehlinvestitionen. Und: Laut der Studie stützen verschiedene politische Partizipationsformen einander statt sich gegenseitig zu behindern. Spricht alles für mehr Vielfalt in demokratischen Entscheidungsprozessen, oder?

Das funktioniert aber nur, wenn wir uns alle beteiligen. Und dafür müssen wir wissen, wie und wo. Denn auch wenn die großen Bürgerbeteiligungs-Tools nur selten in die Hand genommen werden, gibt es auch in unserer Stadt immer mehr Mittel und Wege, sich in kommunale Entscheidungen einzubringen. Erst 2015 wurden von einem eigens gegründeten Arbeitskreis „Leitlinien zur Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in der Wissenschaftsstadt Darmstadt“ veröffentlicht und seitdem fortlaufend umgesetzt. Mittlerweile haben sich daraus einige handfeste Maßnahmen ergeben.

Zentral ist hierbei die Bürgerbeteiligungsplattform da-bei.darmstadt.de. Dort wird nicht nur über die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in Darmstadt aufgeklärt. Einzusehen ist auch eine öffentliche „Vorhabenliste“, die über geplante Projekte und die Möglichkeiten zur Beteiligung an diesen informiert. Auch Bürger*innen können hier eigene Vorhaben einreichen oder Bedarf an Bürgerbeteiligung anmelden. Es gibt außerdem einen Mängelmelder, über den Bürger*innen Defizite im Stadtbild und der Lebensqualität aufzeigen können. Bis Mitte September konnten Bürger*innen auf der Webseite etwa die sechs möglichen Routen für den Verlauf der Radschnellverbindung durch Darmstadt einsehen, bewerten und kommentieren – aktuell läuft (noch bis zum 16. Oktober) ein Namenswettbewerb über Quartiers- und Straßennahmen des neu entstehenden Ludwigshöhviertels.

Ein ebenso starkes Tool der Bürgerbeteiligung in Darmstadt ist der Bürgerhaushalt 2.0. Dieser ermutigt Bürger*innen, sich selbst aktiv an der Gestaltung der Stadt zu beteiligen: Wer bis zum 15. November eine gemeinnützige Projektidee (etwa für einen Nachbarschaftsgarten, offene Bücherschränke oder Bildungsangebote) einreicht, hat die Chance bis zu 5.000 Euro aus dem Bürgerbudget zur Umsetzung dieses Projekts zugesprochen zu bekommen. Die Anträge werden von einer dreizehnköpfigen Bürgerjury begutachtet, die Empfehlungen für die Förderentscheide der Stadtverordnetenversammlung ausspricht. Noch bis zum 14. Oktober können außerdem eigene Vorschläge für die Stadtpolitik eingereicht, mit anderen darüber diskutiert – sowie über die verschiedenen Vorschläge abgestimmt werden.

Bei der schon 1998 von engagierten Bürger*innen initiierten Lokalen Agenda 21 geht es um gemeinnützige Projekte, die dazu dienen, die beim „Erdgipfel“ in Rio 1992 beschlossenen Ziele für die nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert umzusetzen. Hier steht vor allem der Umweltaspekt im Vordergrund, allerdings in Verbindung mit den Bereichen Ökonomie, Soziales und Entwicklung. Jede*r kann sich in einer der Themengruppen engagieren, die in ihren Projekten finanziell von der Stadt unterstützt werden und die thematische Agenda der Lokalpolitik beeinflussen.

Auch beim Bürgerpanel, welches vor rund zwei Jahren vom „s:ne“-Projekt der Hochschule Darmstadt ins Leben gerufen wurde, geht es vornehmlich um das Thema Nachhaltigkeit. „Wandel funktioniert nur, wenn Meinungen und Wünsche von Bürger*innen die Entwicklung und Umsetzung von Lösungsideen bestimmen“, wissen die Initiator*innen. Deshalb erfasst das Bürgerpanel über wiederholte Online-Befragungen das Stimmungsbild der Bürger*innen und ihre Meinungen zu Ideen, welche nachhaltige Entwicklungen in unserer Region voranbringen könnten. So ermöglicht es uns, indirekt Einfluss auf die Umsetzung verschiedener Projekte zu nehmen – und damit klare Zeichen zu setzen, welche Entwicklungsrichtung wir uns als Bürger*innen wünschen. Bei der nächsten Befragung, die vermutlich Ende des Jahres startet, wird es um nachhaltige Mobilität in Darmstadt gehen. Abstimmen ist wichtig, denn je mehr unterschiedliche Bürger*innen am Bürgerpanel teilnehmen, desto aussagekräftiger und repräsentativer die Ergebnisse – und umso ernster werden sie genommen.

Direkter geht es zum Beispiel über die Bürgersprechstunde, zu der Oberbürgermeister Jochen Partsch mehrmals im Jahr einlädt. Die nächste findet am 18. November statt. Einzige Hürde: Vorab muss man sich mit Angabe des Themas, über das man mit dem OB sprechen möchte, anmelden.

Vor Ort gibt es derzeit außerdem in Arheilgen und in Eberstadt die ersten beiden Stadtteilforen, die allen interessierten Bürger*innen und Institutionen offen stehen, um sich zu vernetzen, auszutauschen und gemeinsam Einfluss auf die Entwicklungen im jeweiligen Stadtteil zu nehmen.

Auch das Büro der Bürgerbeauftragten ist eine gute Anlaufstelle, wenn es um Mitbestimmung, Beschwerden oder Ideen geht. Die Mitarbeitenden des Büros verstehen sich auch als Lots*innen für alle Heiner durch die Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung. Denn:

Vorsicht vor Klicktivismus: Online ist nicht alles!

Die (endlich auch auf bürokratischer Ebene) wachsende Digitalisierung ist offensichtlich ein ordentlicher Katalysator der Bürgerbeteiligung. Wer ist zwischen Job, Familie und Freizeitstress schon so engagiert, dass er jede Woche zu einer Bürgerabstimmung ins Rathaus gehen würde? Wenn wir vom Frühstückstisch oder der Couch aus unsere Meinung kundtun und Entscheidungen beeinflussen können, sind wir viel leichter dazu bereit. Aber: Achtung vorm Klicktivismus! Ein paar Klicks alleine tun es nicht, und wir laufen Gefahr, uns darauf auszuruhen, dass wir in den letzten Monaten zwei Online-Umfragen der Stadt ausgefüllt haben. Echte Bürgerbeteiligung findet (auch) auf der Straße statt. Deshalb ist es ebenso wichtig, sich auch in persona in Initiativen zu engagieren und für Bürgerentscheide wie etwa den Klimaentscheid Darmstadt nicht nur mit der eigenen Unterschrift, sondern im Zweifel auch mit dem eigens geschriebenen Plakat bei einer Demo einzustehen. Damit die Politik gezwungen ist, echte Partizipation zuzulassen.

 

Möglichkeiten der Partizipation auf einen Klick:

Die Bürgerbeteiligungsplattform dabei.darmstadt.de liefert einen guten Überblick und zwei Beteiligungsstränge: Bis 14. Oktober kann man Vorschläge für die Lokalpolitik einreichen, bis 15. November eigene Ideen für Projekte.

Das Bürgerpanel der Hochschule Darmstadt erfasst Meinungen der Bürger*innen zu verschiedenen Themen – Ende des Jahres beginnt die nächste Umfrage.