Foto (im Spätsommer aufgenommen): Nouki Ehlers, nouki.co

Sport, der in Darmstadt betrieben wird und – Trommelwirbel – nicht Fußball ist? Jawohl, das gibt’s. Hier stellen wir sie vor, die Sportarten, die (noch) nicht von einem großen Publikum bejubelt werden. Zum Beispiel, weil sie bislang kaum jemand kennt. Oder weil sie eben einfach zu speziell sind, um die Massen zu begeistern. Oder vielleicht, weil man lieber unter sich bleibt? Wir gucken uns das für Euch aus der Nähe an. In dieser Ausgabe: Capoeira.

Capoeira … da denke ich zuerst an Kampfsport und an Brasilien. Aber sonst habe ich überhaupt keine Vorstellung von dieser Sportart. Zum Glück hat Michael Vas, auch Mestre Cigano genannt und der Gründer der Grupo Capoeira Brasil Deutschland, Antworten für mich. Ich darf beim Training in Darmstadt mitmachen und lerne dabei so einiges. Zuerst bin ich etwas erstaunt, wie fit und durchtrainiert hier alle aussehen. Doch schon beim Aufwärmen verstehe ich, warum, denn Capoeira trainiert den gesamten Körper und viele der Teilnehmer sind richtig akrobatisch. Alle laufen wuselig durcheinander und neben mir wird zwischendurch auch mal ein Handstand gemacht oder ein Rad geschlagen. Capoeira ist eigentlich eine Mischung aus Kampf und Tanz und jeder Capoeirista setzt diese Mischung individuell um. Das macht das Zusammenspiel von Männern und Frauen besonders interessant, die ja sonst bei Kampfsportarten meist nach Geschlechtern getrennt antreten.

Kampfübungen, die als Tanz getarnt sind

Die Geschichte und Motivation hinter Capoeira zu kennen, ist sehr wichtig, denn die Bewegungen, die wir heute als Sport nutzen, haben ursprünglich Sklaven auf brasilianischen Zuckerrohrplantagen gemacht. Sie tarnten ihre Kampfübungen als Tanz. Auch der Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung im Training haben durchaus einen historischen Hintergrund. Capoeira war verboten und wurde lange Zeit nur im Untergrund geübt. Daher kommen auch die individuellen Spitznamen, die die Capoeiristas von ihren Mestres erhalten und die ursprünglich als Tarnung dienten. Die portugiesischen Namen können sowohl Aussehen als auch die Art des Kampfes oder des Charakters der Sportler beschreiben. Als Nebeneffekt zum Sport werden den Teilnehmern also die kulturellen Werte und einige sprachliche Ausdrücke übermittelt. Es gibt auch ein Training für Kinder – und ich kann mir gut vorstellen, wie viel Spaß diese haben und dabei viel lernen.

Los geht es mit dem Grundschritt

Nach einem kurzen Aufwärmen mit Laufübungen und der Koordinationsleiter lerne ich erst mal den Grundschritt: die Ginga. Dabei wird ein Bein zur Seite gesetzt, das andere macht einen Schritt nach hinten – allerdings nicht über Kreuz oder verdreht, so wie ich es anfangs dauernd machen will. Ein Arm ist zur Verteidigung immer vor dem Oberkörper, der andere wird ungefähr auf Kinnhöhe als Schutz für die Zähne gehalten. Diesen Grundschritt machen die Gegner parallel zueinander, denn man will den anderen schließlich immer im Blick haben.

Foto (im Spätsommer aufgenommen): Nouki Ehlers, nouki.co
Foto (im Spätsommer aufgenommen): Nouki Ehlers, nouki.co

Angreifen und Ausweichen


Die Ginga kann ich jetzt schon mal. Als Nächstes lerne ich meinen ersten Kick, die Armada. Dabei wird aus dem Grundschritt heraus statt einem Schritt zur Seite ein Kick in einem Halbkreis vor dem Körper ausgeführt. Der Gegner muss sich dann aus der Ginga heraus wegducken. Auch dafür übe ich verschiedene Ausweichschritte. Wichtig ist, immer daran zu denken, dass man die Arme auch weiterhin schützend vor das Gesicht hält. Jetzt frage ich mich dann doch, ob der Sport nicht auch mal gefährlich ist. Alle sind sich einig, dass man sich zwar natürlich auch bei Capoeira verletzen kann, sich die Gegner aber nicht wie beim Boxen absichtlich hauen, sondern vielmehr versuchen, einander geschickt austricksen. Am Ende des Trainings wird auch noch etwas gekämpft und es ist wirklich die Ausnahme, dass sich die Gegner überhaupt berühren. Nicht zufällig heißt diese Art des Kampfes Jogo, übersetzt: Spiel.

Als zweiten Kick lerne ich dann noch den Martelo, was „Hammer“ bedeutet. Hierbei dreht man sich aus der Ginga zur Seite und kickt das Bein ungefähr hüfthoch. Die tatsächliche Höhe des Sidekicks wird dann immer an die Situation und die Größe des Gegners angepasst. Mit dem Schwung aus der Drehung durch die Ginga klappt das bei mir ganz gut. So üben wir eine Weile und ich merke gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht.

Foto (im Spätsommer aufgenommen): Nouki Ehlers, nouki.co
Foto (im Spätsommer aufgenommen): Nouki Ehlers, nouki.co

Die Roda


Am Ende des Trainings gibt es eine Roda, übersetzt: ein Kreis/eine Runde, bei der jeder, der mag, antreten kann. Mestre Cigano macht Musik an und es geht los. Zu brasilianischem HipHop treten immer zwei Capoeiristas in einen Kreis, den die Zuschauer um sie herum bilden. Die beiden Gegner betreten Rad schlagend die Roda und beginnen dann mit der Ginga, dem Grundstück. Dabei bewegen sie sich im Kreis umeinander und versuchen, sich mit Kicks und Tritten zu bekämpfen. Es ist total spannend, den anderen bei den Kämpfen zuzusehen, denn jeder hat seine eigene Technik und individuelle „Moves“. Es kommt vor allem auf Geschicklichkeit und Beweglichkeit an. Nach einiger Zeit, in der ich entspannt zuschauen konnte, soll ich auch in die Roda. Jetzt schauen mir alle zu und ich werde doch etwas nervös. Aber das Schöne an dieser Sportart ist auch der Zusammenhalt der Sportler – und natürlich wissen alle, dass dies meine erste Stunde überhaupt ist. Ich fühle mich zwar beobachtet, aber keinesfalls bewertet, als ich meine ersten Angriffs- und Abwehrversuche starte. Es macht mir dann sogar Spaß, denn anders als bei den Trainingseinheiten weiß ich jetzt natürlich nicht, was mein Gegner als Nächstes tun wird. Die Nähe zum Tanzen mag ich auch sehr und die rhythmischen Bewegungen zur Musik machen mir direkt gute Laune. Trotzdem ist es auch anstrengend und ungewohnt und ich freue mich, als ich abgelöst werde und noch ein bisschen bei den anderen zuschauen kann. Dieser Sport ist wirklich mehr als nur eine Kampfsportart – und sie bringt ein bisschen Brasilienfeeling in unsere Heinerstadt.

 

Mitmachen

Die aktuellen Trainingszeiten gibt es online unter: capoeirabrasil.de/darmstadt

Durch die Einschränkungen der Pandemie fand das Training in den letzten Monaten sowohl online als auch im Freien statt und wird immer den aktuellen Bedingungen angepasst. Das Hallentraining findet in den Sporthallen der Viktoriaschule, der Heinrich-Hoffmann-Schule und der Lessingschule statt – Mitte Oktober: unter 3G-Bedingungen. Das Kinder-Training läuft nur in der Viktoriaschule.

 

Capoeira-Regeln kurz und knapp

Die Regeln im Capoeira werden in normative und pragmatische Regeln unterteilt. In die erste Kategorie fallen die Regeln, die das Miteinander und die Sicherheit der Sportler definieren. Zum Beispiel, dass das aktive Spiel nur in der Roda stattfindet und die Gegner sich durch Schläge mit der geschlossenen Faust nicht absichtlich verletzen dürfen. Der Gegner sollte immer im Blick bleiben, denn man muss immer bereit sein, einen Angriff zu verteidigen. Auch die Musik spielt bei diesen Regeln eine Rolle, denn sie markiert Anfang und Ende der Roda – und ohne Musik findet auch kein Spiel statt. Die Capoeira-Lieder werden live auf traditionellen Instrumenten gespielt, tonangebend ist dabei das Berimbau, ein bogenähnliches Holz-Instrument (Verga) mit einem hohlen Kürbis (Cabaça) als Resonanzkörper, welches mit einem Metalldraht (Arame) bespannt ist und mit einem Holzstab (Baqueta) und einem Stein/einer Münze (Moeda/Dobrão) angespielt wird.

Die pragmatischen Regeln beschreiben eine Art Idealzustand von Capoeira. Die Kämpfe sind allerdings nie identisch und ergeben sich immer situativ aus dem Zusammenspiel der Gegner. Daher ist auch der kommunikative Charakter des Sports sehr wichtig, denn die Sportler müssen ständig auf ihr Gegenüber achten und reagieren. Wichtig ist es, immer in Bewegung zu bleiben und allen Angriffen auszuweichen. Um den Gegner verwundbar zu machen, wird versucht, ihn zu täuschen. Eine der Regeln lautet außerdem während des Kampfes immer zu lächeln: Die Freude an der Bewegung steht klar im Vordergrund.