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Foto: Hannah Lesch + Sophia Stölting

Springen. Rollen. Springen. Ein kurzer Sprint. Und wieder springen. Sebastian Reul manövriert sich gerade durch ein Jump’n’Run-Videospiel. Aber nicht mit Tastatur, Joystick oder Gamepad. Er springt, wenn er an seine Füße denkt, und sprintet, sobald er sich nur auf die linke Hand konzentriert. Der Querschnittsgelähmte steuert seine Spielfigur mit seinen Gedanken. Gemeinsam mit Studenten der TU Darmstadt trainiert er für die Weltmeisterschaft im Cybathlon Anfang Oktober in Zürich, der allerersten weltweit. Er trainiert für den Wettbewerb „Brain Controlled Computer Game“.

„Bäh, bäh, bäh, bäh. Ich hasse dieses Gefühl“, beschwert sich Sebastian angewidert, als Team-Koordinatorin Natalie Faber ihm die Elektrodenkappe über den Kopf zieht. Die Kappe sieht aus wie eine Silikonmütze mit Lämpchen und ist von innen mit Tröpfchen aus elektrisch leitendem Gel übersät. Das fühlt sich offenbar wirklich unangenehm auf der Haut an. „Nur das Abziehen ist schlimmer“, erklärt der junge Mann im Rollstuhl.

Die an Science-Fiction-Filme erinnernde Mütze ist Sebastians Joystick, um durch den virtuellen Parcours des Spiels „Brainrunners“ zu navigieren. Die 129 Elektroden an seiner Kopfhaut messen per Elektroenzephalografie (EEG) elektrische Signale, die durch die neuronale Aktivität von Sebastians Gehirn entstehen. Seine Hirnströme werden von dem „Brain-Computer-Interface“ (Hirn-Computer-Schnittstelle) in Steuerungssignale umgewandelt und lassen seine Spielfigur auf dem Bildschirm springen, rollen und rennen. Ob ein Signal durchkommt, ist einfach zu erkennen: die Elektroden wechseln ihre Farbe. „Ich komme mir vor wie ein Christbaum“, scherzt der 26-Jährige, während auf seinem Kopf die Lämpchen blinken.

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Pilot Sebastian | Foto: Hannah Lesch + Sophia Stölting

Gemeinsam mit elf Studenten der TU Darmstadt – größtenteils Informatiker – und in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen trainiert Sebastian derzeit für den Cybathlon der ETH Zürich. Im internationalen Wettbewerb werden sich Menschen mit Behinderung mithilfe neuester Technik in verschiedenen Disziplinen messen. Das Darmstädter Team tritt – als einziges aus Deutschland – in der Disziplin „Virtuelles Rennen mit Gedankensteuerung“ an. Ein bisschen Wettbewerbsluft haben sie bereits letztes Jahr bei der Probe in Zürich geschnuppert. Damals wurden sie Dritter. „Es war einfach interessant zu sehen, wie die anderen Teams aufgebaut sind“, erzählt Natalie.

„Gedanken lesen können wir nicht“

Während der Testläufe herrscht unter den Nachwuchsforschern und ihrem querschnittsgelähmten Piloten Sebastian eine lockere Stimmung. Man plaudert zwischendurch über Serien und Tattoos, nur unterbrochen von kurzen technischen Nachfragen oder Absprachen. „Gedanken lesen können wir damit übrigens nicht“, erklärt Natalie, die Koordinatorin der Gruppe, und deutet auf die leuchtenden Elektroden. „Es funktioniert anders, als man das aus Hollywood-Filmen kennt. Wir kennen nur die Gedanken, die Sebastian uns erzählt.“

„Das kann ja wohl nicht sein! Du hast einen neuen Highscore hingelegt!“ – Jubel! Sebastian hat es geschafft: Er hat sieben richtige Signale an das kleine Männchen auf der Laufstrecke gesendet und ist im Ziel angekommen. Der Pilot ist inzwischen ruhiger geworden und wirkt etwas erschöpft. „Eigentlich sitze ich hier ja nur rum, aber sich zu konzentrieren, geht richtig an die Substanz“, erklärt er. Denn selbst ein Blinzeln reicht, um das Signal des EEG zu verfälschen und die Spielfigur am nächsten Hindernis scheitern zu lassen.

An Nichts zu denken, ist das Schwierigste

Gerade das Entspannen zwischen den Signalen sei am anstrengendsten. Entspannen bedeutet in diesem Fall, dass der Spieler an nichts denken darf, um keine irreführenden Befehle zu senden. Sebastian hat deshalb sogar mit Autogenem Training begonnen, denn er möchte unbedingt Weltmeister werden. Um seine Spielfigur ins Ziel zu steuern, hat er spezielle Gedanken entwickelt: Zum Springen beispielsweise konzentriert er sich auf seine Füße und denkt an einen Tritt aufs Gaspedal. Diese Mechanismen bis zum Wettbewerb in Zürich zu optimieren, ist das Ziel der Jungforscher unter der Leitung Jan Peters von der TU Darmstadt und von ihrem ehrgeizigen Piloten.

Einen kleinen Haken gibt es allerdings noch: Bisher ist Sebastian der einzige Pilot des Teams der TU Darmstadt. Im Training arbeitet die Forschergruppe zwar meist mit gesunden Piloten, beim Cybathlon sind diese allerdings nicht zugelassen. Wenn Sebastian am 08.10. in Zürich ausfallen würde, könnte das Darmstädter Team nicht an der Weltmeisterschaft teilnehmen. Die Studententruppe sucht daher dringend nach weiteren Piloten, die Lust haben, am Training in Darmstadt und am großen Wettbewerb in Zürich teilzunehmen.

 

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Foto: Hannah Lesch + Sophia Stölting

Piloten gesucht!

Auch wenn das Cybathlon-Team an sich gut aufgestellt ist, fehlt es ihnen am Wichtigsten: an Piloten. Für die Teilnahme zugelassen sind durch eine Läsion am Halswirbel körperlich eingeschränkte Menschen, ALS-Patienten sowie Menschen, die vom Hals abwärts querschnittsgelähmt sind. Also meldet Euch! Vielleicht kennt Ihr ja auch jemanden, der Lust auf Zürich, Computerspiele und einen potenziellen Weltmeistertitel hat. Bei Interesse erreicht Ihr das Team unter tanneberg.daniel@gmail.com.

www.cybathlon.informatik.tu-darmstadt.de

 

Cybathlon: Wenn Mensch und Roboter sich zusammentun

Weltpremiere: Die ETH Zürich organisiert am Samstag, 08.10.2016, den ersten Cybathlon. Menschen mit körperlichen Behinderungen messen sich dank neuester technischer Assistenzsysteme in sechs anspruchsvollen Disziplinen. Athleten überwinden mit neuartigen Rollstühlen Treppen oder sie beweisen mit futuristisch wirkenden Prothesen ihre Geschicklichkeit und Schnelligkeit. Es gibt Parcours mit Beinprothesen, Armprothesen, robotischen Exoskeletten und motorisierten Rollstühlen sowie ein Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation und ein gedankengesteuertes virtuelles Rennen. Die Parcours fokussieren ganz bewusst auf Aufgabenstellungen, die aus dem täglichen Leben bekannt sind. „Der Cybathlon bietet eine Plattform für die Entwicklung neuartiger, alltagstauglicher Assistenztechnologien. Gleichzeitig will er Barrieren zwischen Menschen mit Behinderungen, der Öffentlichkeit und Technologieentwicklern abbauen“, erklären die Organisatoren.

www.cybathlon.ethz.ch