daniel neumann
Foto: Jan Ehlers

In fünf Folgen hat das P dieses Jahr an Menschen erinnert, die während der Nazi-Zeit in unserer Stadt verfolgt oder ermordet wurden. Wir wollten ihnen ein Gesicht geben, ihre Geschichte erzählen und so 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Erinnerung rufen, wie wichtig es ist, für Menschlichkeit und Toleranz einzustehen. Aber was heißt es, aus der Geschichte Lehren zu ziehen? Darüber haben wir uns zum Abschluss der Serie mit Daniel Neumann, dem ehrenamtlichen Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Darmstadt sowie Direktor des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen, unterhalten.

 

Das jüdische Gemeindezentrum in Darmstadt wird rund um die Uhr von der Polizei bewacht. Sie selbst haben einmal gesagt, ein Vorteil der Juden sei es, dass man sie nicht gleich an ihrer Hautfarbe erkennt. Ist es nicht ein Armutszeugnis für die deutsche Gesellschaft, wenn sich Juden heutzutage nicht angstfrei öffentlich zu ihrem Judentum bekennen können?

Daniel Neumann: Erst einmal war es eine zynische Bemerkung von mir gewesen. Aber sie trifft doch auf viele Gegenden in Deutschland zu. Es ist vielleicht überzogen, von No-Go-Areas für Juden zu sprechen, aber sicherlich ist es richtig, dass es für Juden, die religiöse Symbole nach außen tragen wollten, nicht immer ganz ungefährlich wäre, das zu tun. Deshalb: Normalität in dem Sinne gibt es für Juden nicht. Aber wir haben da schon eine gewisse Abgestumpftheit entwickelt. Irgendwann nehmen wir den Polizeiwagen und die Polizisten, die zu unserem Schutz da sind, nicht mehr wahr. Man befindet sich ja nicht die ganze Zeit in einem angespannten Angst- oder Stresszustand, sondern verdrängt die Gefährdung auch ein bisschen.

Aber es ist doch ein Zeichen dafür, dass keine Lehren aus der Geschichte gezogen wurden?

Sagen wir mal so: Die Gesellschaft hat sicherlich viele Baustellen. Und Judenhass gibt es ja nicht nur an einer Front. Man kann der deutschen Gesellschaft sicherlich eines nicht vorwerfen: sich nicht ausreichend mit der Nazi-Zeit beschäftigt zu haben. Das Problem ist vielmehr, dass es erstens Gruppen gibt, die das eben nicht getan haben, und zweitens der Antisemitismus aus unterschiedlichen Richtungen kommt. Ablehnung, Hass, Ressentiments gegen Juden haben mittlerweile so viele verschiedene Gesichter, dass es einfach keine Patentlösung gibt, um diesem Problem Herr zu werden.

Waren Sie persönlich schon einmal mit Antisemitismus konfrontiert?

Ja, schon, aber ich kann mich nicht an eine Situation erinnern, in der es „gesundheitsgefährdend“ geworden wäre. Es bezog sich immer auf blöde Vorurteile, dummes Dahergerede oder Beschimpfungen, aber ohne Gewaltandrohung. Es ist oft ein naiv-blöder Antisemitismus. Ich weiß aber nicht, ob der nicht auch gefährlich werden kann, wenn die falsche Person kommt und diesen kanalisiert.

Nach den aggressiven Demonstrationen im Sommer 2014 auch hier in Darmstadt, bei denen antisemitische Parolen gerufen wurden, gab es eine Kundgebung gegen Antisemitismus, zu der zwar hochrangige Lokalpolitiker kamen, aber sonst nur sehr wenige Menschen. Fehlt es in der Bevölkerung an Sensibilität für das Thema?

Zum einen hat das sicherlich damit zu tun, dass die Menschen denken, sich ausreichend mit der Nazi-Zeit beschäftigt zu haben, müsse doch reichen. Viele sind der Meinung, sie hätten ja ihre Lehren gezogen und müssten nicht noch auf die Straße gehen. Welche Lehren das dann sein sollen, wenn in solchen Situationen keiner handelt, weiß ich nicht. Es mag aber auch daran liegen, dass sie dachten, sich dann ungewollt mit Israel-Freunden solidarisieren zu müssen. Dass also für viele Unklarheit vorherrscht, hinsichtlich der eigenen Positionierung. Auch die Unfähigkeit der Unterscheidung von Israel und uns Juden ergibt immer wieder eine schwierige Gemengelage.

Da stellt sich die Frage, wie sich das ändern lässt?

Ich bin ja kein Experte für gesellschaftliche Prozesse in der nicht-jüdischen Gesellschaft. Ich habe schon genug Probleme mit der jüdischen [lacht].

„Juden sind ja schließlich keine Marsmännchen.“

Es gibt aber verschiedenen Projekte und Bildungsansätze der Erinnerungsarbeit wie Mahnmale und Stolpersteine. Wirken die überhaupt?

Ich denke, dass die Leute das Gefühl einer Überdosierung haben, viele sind des Themas überdrüssig. Ich glaube, die Wenigsten sind sich bewusst, dass die Angriffe gegen Juden ein Angriff gegen ihr eigenes Land sind, gegen einen Teil der deutschen Bevölkerung. Juden sind ja schließlich keine Marsmännchen. Ich will das nicht überdramatisieren, aber wenn wir mit Sprüchen wie „Juden ins Gas“ oder „Kindermörder“ angegriffen werden, halte ich das für sehr bedenklich und ich glaube, die Leute verstehen nicht, dass sich das auch gegen die eigenen Grundlagen, die eigenen Werte richtet.

Wie ist die Situation für die Jüdische Gemeinde in Darmstadt?

Es gibt natürlich in jeder Stadt Antisemiten, auch hier. Allgemein geht man davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung solche Vorurteile haben. Was die rechte Front angeht, haben wir hier in Darmstadt weitgehend Ruhe. Die letzten antisemitischen Ausbrüche kamen eher von der muslimischen Seite, gerade im Rahmen der Gaza-Demonstration 2014. Dieser Bereich macht auch den Sicherheitsbehörden am meisten Sorgen. Aber es ist alles eher eine abstrakte Gefährdungslage, die uns belastet, weil wir viel mehr als früher darüber nachdenken müssen, welche Veranstaltungen wir durchführen können und welche nicht. Solche Überlegungen hatten wir vor zehn Jahren hier noch nicht.

In Darmstadt wurde aber auch das Denkmal Güterbahnhof mehrmals zerstört und Stolpersteine gestohlen. Wie sehen Sie diese Vorfälle?

Das sind nun mal Erscheinungsformen aus dieser Gesellschaft. Man kann nicht alles permanent beschützen. Wichtiger ist, dass man gesellschaftlich dagegen vorgeht und ermittlungstechnisch konsequent aufklärt.

Sie haben ja den neuen Antisemitismus angesprochen, in dem der blutrünstige Jude mit dem Bild des kinderfressenden Israelis ersetzt wurde. Wie groß ist die Gefahr, die davon ausgeht?

Die virulenteste und bedrohlichste Form des Antisemitismus gibt es derzeit in der muslimischen Community. Da sind auch die Sicherheitsbehörden momentan am hellhörigsten. Was gegenwärtig die Situation befeuert, ist der Umstand, dass Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien kommen, wo der Antisemitismus zum Alltag gehört. Das macht uns durchaus Sorgen. Auf der einen Seite steht für uns Juden natürlich der moralische Imperativ, Menschen in Not zu helfen, und auf der anderen Seite die Sorge, dass wir Juden von rechten Gruppierungen und muslimischen Antisemiten in die Zange genommen werden.

Ein Problem ist sicherlich auch, dass man zu den muslimischen Communities fast keinen Zugang hat.

Das sehen wir auch. Bei Synagogen-Führungen haben wir immer wieder arabischstämmige, muslimische Kinder dabei, die sich weigern eine Synagoge zu betreten, die das Tragen einer jüdischen Kopfbedeckung verweigern, die sagen, das verböten ihnen ihre Eltern oder ihre Religion. Diese Stereotype können wir alleine nicht auflösen. Denn wenn schon das Angebot eines Besuchs der anderen Religion, diese ausgestreckte Hand, verweigert wird, dann haben wir keine Möglichkeiten, um die Situation zu verbessern. Diese Arbeit muss in den Communities selbst geleistet werden, denn nur Menschen, die die Traditionen verstehen, können diese Leute erreichen.

Gleichzeitig finden hier in Darmstadt in einer Räumlichkeit, die von der Stadt finanziell unterstützt wird, Veranstaltungen statt, bei denen gegen Israel gehetzt wird. Müsste die Stadt hier nicht genauer darauf achten, wen sie unterstützt?

Solange es Veranstaltungen sind, die eine kritische Haltung zu Israel einnehmen, gibt es keinen Grund, dagegen vorzugehen. In dem Moment aber, wo Leute Vorträge halten, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, das Land mit dem Nazi-Regime vergleichen und Israel Völkermord vorwerfen, sollte man sich als eine Stadt, die sich ihrer Weltoffenheit rühmt, fragen, ob man da noch Geld reinsteckt.

In Dresden demonstrieren bis zu 20.000 Pegida-Anhänger und die Zahl der Salafisten hat sich in den letzten vier Jahren verdoppelt. Radikalisiert sich die Gesellschaft?

Das ist ein riesiges Problem. Aus meiner Sicht findet medial und sprachlich eine unglaubliche Verrohung statt. Ich ziehe nicht so gerne historische Vergleiche, aber das erinnert mich an die Anfänge der Weimarer Republik, als man nicht mehr miteinander geredet hat, sondern man sich sprachlich so radikalisiert hat, dass der nächste denkbare Schritt die Ausübung von Gewalt war. Die Tatsache, dass die jetzige Kölner Oberbürgermeisterin von einem niedergestochen wurde, dem ihre Politik nicht gefallen hat, oder ein Journalist in Berlin niedergeschlagen wurde, weil er eine flüchtlingsfreundliche Meinung vertreten hat, finde ich schockierend.

Trotz dieser düsteren Tatsachen ist die Jüdische Gemeinde in Darmstadt mit knapp 650 Mitgliedern heute größer und lebendiger als in den letzten 70 Jahren. Das macht doch Hoffnung?

Vollkommen. Es wäre auch übertrieben zu sagen, dass dieses antisemitische Grundrauschen, die Ausbrüche während der Beschneidungsdebatte 2012 und des Gaza-Konflikts 2014 das ganze jüdische Leben dominieren. Ganz im Gegenteil. Das bedrückt uns, das besorgt uns durchaus, und es führt auch zu Überlegungen, wie es nur weitergeht. Aber den größten Teil der Zeit lebt man gerne als Jude hier. Die Situation heute in Deutschland ist verglichen mit anderen Ländern, und vor allem verglichen mit anderen Zeiten, immer noch gut. Bei allem Schlechten und Sorgenvollen ist es noch lange kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken oder darüber nachzudenken, das Land zu verlassen. Wir haben bislang immer nur das Beste gehofft. Das können wir besonders gut und das werden wir auch zukünftig tun.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Führungen durch die Darmstädter Synagoge

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