Sechs Darmstädter waren, sind und gehen auf Reisen, um mit Leidenschaft und Liebe an verschiedenen Orten der Welt zu helfen. In sechs Ausgaben des P-Magazins werden die persönlichen Erfahrungen aus sechs verschiedenen Ländern von sechs unterschiedlichen Menschen aus Darmstadt und Umgebung vorgestellt. Helfen ist nicht selbstverständlich und muss deshalb an dieser Stelle unbedingt im P erwähnt werden!

Marvin Nickel (20 Jahre), leidenschaftlicher Musiker und Maler sowie bei Greenpeace aktiv, zog es für sein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) im August 2011 von Darmstadt nach Nicaragua.

Nicaragua – FSJ mal ganz woanders

Foto: Privat
Foto: Privat

Marvin bewarb sich bei einigen FSJ-Organisationen – in der Hoffnung, einen „weltwaerts“-Platz zu bekommen. „Weltwaerts“ nennt sich das Förderprogramm des deutschen Staates für Freiwillige von 18 bis 25 Jahren. Es ist ein lukratives Förderprogramm, das den FSJ’lern den Flug finanziert und sie in Sachen Verpflegung, bei der Unterkunft und mit Taschengeld unterstützt.

Marvin interessierte sich schon lange für die Kultur Mittelamerikas. „Von Musik und Tanz bis Landschaft, Poesie und Lebensverhältnisse hat Nicaragua einiges zu bieten“, schwärmt er. Eine weitere Motivation sei gewesen, durch seinen Freiwilligendienst einen möglichst großen Kontrast zu seiner Heimat Darmstadt zu erleben: „Nicaragua ist das ärmste Land Lateinamerikas, jedoch sind die Menschen lebensfroh und offen.“ Ein Großteil des Lebens finde auf der Straße statt, „die Einwohner sitzen draußen, laufen durch die Gassen, sprechen mit den Nachbarn und haben ein sehr großes Gemeinschaftsgefühl.“

Die Landschaft des zentralamerikanischen Staates ist urzeitlich und wild: viele Vulkane, sehr bergig und grün. Von Mai bis März ist in Nicaragua Regenzeit, das heißt, es regnet die meiste Zeit – und wenn nicht, dann knallt die Sonne. Wobei in Jinotega, der Stadt, in der Marvin lebte, ein recht angenehmes Klima herrscht. Genannt wird sie „die Stadt des Nebels“. Sie liegt im abgeschiedenen Norden, hat 40.000 Einwohner und ist die kühlste Stadt Nicaraguas – mit durchschnittlich 20 bis 25 Grad.

Revolution: La Cuculmeca

In Jinotega beheimatet ist Marvins Arbeitsstelle, die Institution La Cuculmeca. Der Name stammt von einer Heilwurzel, die vor allem in ländlichen Gebieten Nicaraguas gegen Menstruationsbeschwerden eingesetzt wird. La Cuculmeca wurde vor 22 Jahren von einer Deutschen und zwei Frauen aus Nicaragua gegründet. Sie eröffneten in einem winzigen Dorf in der Nähe ein Büro, um sich für die Rechte der Frauen und eine landwirtschaftliche Revolution einzusetzen. Heute arbeiten in der Einrichtung, die über private Spenden finanziert wird, über 100 Nicaraguaner in verschiedensten Projekten: Landwirtschaft, Ingenieurswesen, Städtebau, Tourismus, Information und Wirtschaft.

Marvin war im Projekt „Turismo Sostenible“ für nachhaltigen Tourismus engagiert. Ziel des Projektes ist es, den Tourismus in der Region zu stärken, um der Bevölkerung das touristische Potenzial zugänglich zu machen. In diesem Bezug ist Jinotega nämlich sehr rückständig: Informationen für Touristen sind nur vereinzelt vorhanden, Guides fehlen – und das, obwohl es einiges zu bestaunen gibt: Auf abenteuerlichen Touren durch den Halb-Urwald können Besucher wunderschöne Wasserfälle besichtigen, im nahen Lago Apanás schwimmen gehen, Bergsteigen, Kaffee-Fincas besichtigen und in Öko-Lodges (umweltfreundlichen Hotels) übernachten. Marvins Hauptaufgabe war der Englischunterricht für Jugendliche, die Touristenführer werden wollen. „Pro Woche habe ich drei Klassen in verschiedenen kleinen Gemeinden auf dem Land unterrichtet. Die Schüler waren zwischen 14 und 25 Jahre alt und es waren fünf bis 15 Schüler pro Klasse.“

Da Marvin in Darmstadt auf der Lichtenbergschule bilingual unterrichtet wurde, konnte er sich in Nicaragua auf seine guten Englischkenntnisse verlassen. Beeindruckend: Marvin kam ohne Spanischkenntnisse nach Nicaragua, um nach nur einem Monat Sprachunterricht und vielen Gesprächen sehr gut spanisch zu sprechen. Zum Ende des FSJ beherrschte er die Sprache sogar fließend. Zusätzlich kennt er sogar ein paar Wörter aus dem Nahuatl, der Sprache der Ureinwohner. Seine Sprachgewandtheit möchte Marvin auch in Zukunft für sein Berufsleben nutzen: Er hat vor, auf Lehramt zu studieren – „eventuell“, wie er schnell relativiert.

Marvin hat viele engagierte Schüler in seiner FSJ-Zeit kennengelernt, die er im Anschluss an seinen Englischunterricht ohne Bedenken auf die „Gringos“ (Touristen) loslassen konnte. Doch er war nicht nur ein engagierter Englischlehrer. Während des Projekts kümmerte er sich auch um gestalterischen Aufgaben wie T-Shirts-designen, Banner-bemalen, Schilder-basteln und Bilder-gestalten.

Offener und selbstsicherer

Das Jahr in Nicaragua hat Marvin selbständig werden lassen. Er hat gelernt, sein Leben selbst zu organisieren: „Kochen und Waschen waren jetzt meine Aufgaben, in Deutschland hatten das immer meine Eltern übernommen.“ Ein sehr einprägsames Erlebnis, das Marvin persönlich weiterentwickelte, schildert er in seinem Tagebuch: „Das besinnlichste Weihnachten aller Zeiten. Nach einer Woche Urlaub auf der wunderschönen Karibikinsel Isla de Maíz musste ich bemerken, dass ich mein Rückflugticket verloren habe. Ohne Geld und ohne Kumpels bleibe ich drei Tage (die Weihnachtsfeiertage) auf der Insel zurück. Die Erfahrung von finanzieller Not und Hunger ist für mich verwöhnten Europäer ein Schock. Am Strand schlafen und mich durch den Tag schnorren, mein Hab und Gut für Brot an Einheimische verkaufen. Das Gute daran: Auf mein nächstes Weihnachten in Darmstadt, mit Familie und Entenbraten, freue ich mich nun dreifach.“

In diesem Jahr hat Marvin mehr Leute kennengelernt als in den letzten drei Jahren in Deutschland zusammen: „Ich konnte für das Leben lernen – und das auf eine sinnvolle und positive Art.“ Besonders schätzt er die Offenheit der Menschen in Nicaragua. „Dadurch bin auch ich offener geworden.“ Für ihn sei es nach der Rückkehr einfacher, neue Leute kennenzulernen. „Früher kam ich nicht mit jedem klar, jetzt akzeptiere ich die Menschen, so wie sie sind. Ich gehe auf sie zu, lege meine Schüchternheit ab und quatsche mit ihnen. Das Zurechtfinden in einem fremden Umfeld hat mir gut getan und mich selbstsicherer gemacht.“

Marvin hat das FSJ sehr geprägt – und nachdenklich gemacht. Er zieht ein ehrliches Fazit: „Viele Freiwillige schwärmen davon, um den Globus zu reisen und die Welt zu verbessern, doch ich möchte nicht nur helfen, sondern zudem mich selbst weiterentwickeln und mich mit allen Facetten kennenlernen.“

 

Mehr über Marvins Abenteuer erfahrt Ihr in seinem Blog:
marvin-la-experiencia.blogspot.com 

Mehr über Marvins FSJ-Organisation unter:
www.cuculmeca.org und www.sfd-kassel.de