Helga bei der Arbeit als Cutterin in London | Foto: www2.bfi.org.uk/news-opinion/news-bfi/features/tales-film-editor-making-olivier-hamlet (BFI), Fotograf:in unbekannt („Helga Cranston editing Hamlet, 1948“)

In der Schulstraße 8, wo sich heute das Schuhhaus Dielmann befindet, erinnert nichts mehr an das Textilgeschäft „Strauss & Mayer“, das nach „königlicher Ernennung“ feine Stoffe importierte und dessen Inhaber Siegfried May war. Trotzdem lässt sich hier – mit einer Geräuschkulisse, damals wie heute bestehend aus geschäftigem Treiben der Einkaufenden, klapperndem Geschirr und Plaudern der Passanten:innen – innehalten und dieser Zeit nachspüren. Einer Zeit, in der in so vielen Darmstädter Geschäften auf einmal Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ auftauchten. Der Zeit, in der Helga May aufwächst.

Helga May wird am 06. Mai 1921 in Darmstadt geboren. Ihre Mutter Anna May-Haas ist eine impressionistische Malerin, ihr Vater Siegfried May Komponist und Organist in der Synagoge – und er betreibt das Geschäft für feine Stoffe in der Schulstraße. Die Familie gehört der Liberalen Jüdischen Gemeinde an, hat enge Verbindungen zum Theater und in die Darmstädter Kulturszene. Besonders Vater Siegfried ist beliebt und bekannt wie ein bunter Hund: „wegen seines Talents, Witze zu erzählen“, wie Helga Jahrzehnte später über ihren Vater schreibt. Mit ihren Eltern, ihrer jüngeren Schwester Gerda sowie Bertha, der Tante väterlicherseits, lebt Helga in einer Wohnung in der Riedeselstraße. Anna May-Haas ist nicht gerne in der Küche gesehen, häusliche Angelegenheiten übernimmt Tante Bertha. Besonders religiös ist die Familie nicht.

Das Stoffgeschäft in der Schulstraße

Von 1927 bis 1931 besucht Helga die Grundschule (damals: Hermannschule, heute: Mornewegschule) anschließend die Viktoriaschule „für höhere Töchter“ in der Hochstraße. Das Erstarken der Nationalsozialisten bekommen Helga, Gerda und die anderen jüdischen Schülerinnen früh zu spüren. Sie werden anders behandelt, mit der Zeit immer mehr ausgegrenzt. Die Lehrer:innen gehen unterschiedlich mit der Machtübernahme um – ihr Geschichtslehrer, den Helga in ihrer Autobiografie lobend erwähnt, „hat sich bis zum letzten Moment davor gedrückt, die Stunde mit ‚Heil Hitler‘ zu beginnen.“ Andere sind von Anfang an mit Begeisterung dabei. Nach dem schulischen Begrüßungsritual richten sich stets alle Blicke der Klasse auf die jüdischen Mitschülerinnen, um zu sehen, wie sie reagieren, berichtet Helga. Wenn die Klasse herumalbert, sitzen die jüdischen Kinder da und wissen nicht, ob sie es wagen sollen, mitzumachen oder nicht. Helga, einst eine der besten Schülerinnen der Klasse, hält sich immer mehr zurück und meldet sich nicht mehr, auch wenn sie die Antwort weiß. Die Freundschaft zu ihren zwei besten Freundinnen, die nicht jüdisch sind, beendet sie, damit diese sich nicht „verpflichtet“ fühlen, die Freundschaft zu ihr aufrechtzuerhalten. In dieser Zeit erlebt Helga, wie jüdische Menschen am Marienplatz dazu gezwungen werden, eine Mauer abzuschrubben. Dem Putzwasser ist Salzsäure beigemischt, an der sich die Menschen die Hände verbrennen.

Familie May (Siegfried, Helga, Gerda und Mutter Anna) | Foto: Karen Fiss

Da die SA, die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP, Siegfried Mays Stoffgeschäft bewacht und niemanden hineinlässt, ist die Familie gezwungen, Mitarbeiterinnen zu entlassen, das Geschäft zu verkleinern und an einen neuen, weniger zentralen Ort zu verlegen. Doch auch am neuen Standort wird im Winter 1934/35 ein SA-Mann postiert, der die Kund:innen fotografiert und dadurch vertreibt. Immer wieder fällt in diesen Jahren das Stichwort „Auswandern“. Für Helga ist das unvorstellbar, denn „trotz der schlimmen Lage ist es doch noch immer das einzige Heim, das man sich vorstellen kann“. Nachdem Helga die Freundschaft mit ihren Schulfreundinnen beendet hat, fühlt sie sich einsam. Sie fängt an, „Denkübungen“ zu machen, „besonders abends im Bett. Ich halte einen Gedanken fest und denke dann rückwärts, um herauszufinden, wie ich zu diesem Gedanken gelangt bin.“ Mit 14 Jahren leitet sie einen jüdischen Jugendclub, mit dem sie Fußball spielt und Ausflüge in den Odenwald unternimmt. Ein Lichtblick in dieser dunklen Zeit ist außerdem der schwedische Architekturstudent Gunnar Henriksson, der bei den Mays zur Untermiete wohnt und für den Helga heimlich schwärmt.

Das Fahrrad und der Wald als einziger Trost

Über das Jahr 1935 schreibt Helga: „Es wird jetzt immer schlimmer. Man bekommt es langsam richtig mit der Angst zu tun. Jeden Abend hört man die SA durch die Straßen marschieren und ihre antisemitischen Lieder in die Gegend schreien.“ Als nun auch noch Gunnar nach Schweden zurückkehrt und sich verlobt, schreibt Helga: „Mein einziger Trost bleibt mir mein Fahrrad und der Wald. Ich fahre selbst im Regen, denn ich habe ein Gummicape, und es macht mir nichts aus, auch wenn die kalten Tropfen mich im Gesicht pieksen. Der Regen wäscht einen rein.“

Im Frühjahr 1936 werden die jüdischen Kinder und auch die jüdischen Lehrerinnen und Lehrer aus der Viktoriaschule hinausgeschmissen. Innerhalb kürzester Zeit wird in den Räumen der Jüdischen Gemeinde eine provisorische Schule aufgebaut, die Helga und Gerda von nun an besuchen. Helga gefällt es hier, es herrscht eine Art Stimmung der Leidensgenossenschaft. „Wir lernen in gemischten Klassen, Jungens und Mädchen aus allen Darmstädter Schulen“, schreibt Helga, „aber alles klappt irgendwie, weil wir alle mithelfen.“ Trotzdem muss die mittlerweile Fünfzehnjährige sich realistisch mit ihrer Zukunft auseinandersetzen: „Wir wissen, daß keiner von uns Abitur machen wird. Die große Frage ist, was man lernen soll. Es muß ein Beruf sein, der einem hilft, im Ausland sein Brot zu verdienen.“ Bei dem Maler und Bühnenbildner Kurt Kempin nimmt Helga Unterricht im Reklamezeichnen.

Gerda und Helga Keller als Kinder | Foto: Karen Fiss
Gerda und Helga Keller | Foto: Karen Fiss

 

Der schauerliche Schall der Stiefel und das Gebrüll der Lieder

Im Frühjahr 1937 zieht Helga zu ihrem Onkel und ihrer Tante nach Berlin, um sich dort an der Kunstschule, die von der Reichsvertretung Deutscher Juden gegründet wurde, weiter auszubilden. In den Sommerferien besucht sie ihre Eltern in Darmstadt. Über diesen Besuch hält sie fest: „Hier in der kleineren Stadt fühlt man Hitler mehr als in Berlin. Das Schauerlichste für mich ist der Schall der Stiefel, wenn die SA-Männer abends durch die Straßen marschieren, und das Gebrüll der Lieder, die sie wie Hunde in die Luft bellen.“ Tante Bertha ist sehr interessiert an Politik, liest viel Zeitung und hört gerne Radio, was immer häufiger zum Streit mit Vater Siegfried führt, da er der Meinung ist, „sich den Schreihals nicht in seinem eigenen Haus anhören“ zu müssen.

Die Auswanderungsbemühungen der Familie werden immer konkreter. Doch im Herbst 1938 wird Siegfried May von der SA festgenommen und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Helga erlebt die Reichspogromnacht in Berlin und hat große Sehnsucht nach ihrer Familie. Aus dem Konzentrationslager werden nur die Menschen entlassen, die nachweisen können, dass sie die Möglichkeit haben, in Kürze auszuwandern. Aus diesem Grund kaufen sich viele Familien teure Karten für Schiffe nach Hongkong oder Südamerika, doch die Mays können es sich nicht leisten. Durch einen Cousin der Mutter gelingt es 1939 schließlich, eine Auswanderung nach England zu organisieren und Vater Siegfried damit nach einigen Wochen aus dem Konzentrationslager herauszuholen. Helga, Gerda und ihren Eltern gelingt es, nach England auszuwandern. Helgas Tante Bertha, deren Stolperstein noch heute in der Riedeselstraße zu finden ist, wird 1942 in Theresienstadt ermordet, Helgas Onkel und Tante aus Berlin „in Deutschland“.

Die Viktoriaschule in der Hochstraße heute | Foto Maya K. Schulz

Der Versuch, den „Datterich“ ins Englische zu übersetzen

Doch Helgas Leben geht weiter. „Mein Glas scheint immer halb voll gewesen zu sein“, resümiert sie später über ihr Leben. In der ersten Zeit in London versucht sie, durch Putzen Geld zu verdienen, hat nach eigenen Aussagen darin jedoch kein großes Talent. Auch ihre Eltern stehen wieder ganz am Anfang: Siegfried May ist bereits 59 und Anna May-Haas 52 Jahre alt, als sie in London ankommen und eine neue Sprache lernen müssen. Sehnsucht nach seiner Heimat und Kultur treiben Siegfried May sogar zum Versuch, den „Datterich“ ins Englische zu übersetzen, während Anna May-Haas ihre Malerkarriere fortsetzt. Endlich tragen Helgas Fähigkeiten im Reklamezeichnen Früchte: Noch während des Krieges erhält sie an der Londoner Kunstschule eine Ausbildung zur Animatorin und wechselt dann das Fach, um Cutterin bei Spielfilmen zu werden. In den folgenden Jahren schneidet sie den oscarprämierten Laurence-Olivier-Film „Hamlet“ sowie „Richard III.“. Außerdem lernt sie die Sekretärin des strengen Hollywood-Regisseurs Otto Preminger kennen. Obwohl diese Helga davor warnt, sich bei Preminger vorzustellen, da dieser Frauen „beim Film“ und besonders im Schnitt grundsätzlich hasse, gelingt es Helga, ihn von sich zu überzeugen. Über einen Witz, den sie macht, „hat er schrecklich gelacht, und ich glaube, da war das Eis gebrochen. Ich glaube, nur deshalb“, erinnert sich Helga später.

Glücklich und erfolgreich in Tel Aviv

Nach dem Krieg wieder nach Deutschland zu gehen, darüber denkt Helga nicht nach, dafür sind die Erinnerungen zu schmerzhaft. In den 1950er-Jahren sterben Siegfried May und Anna May-Haas. Während Schwester Gerda nach New York auswandert, siedelt Helga, die nach einer Hochzeit nun nicht mehr May, sondern Cranston heißt, 1958 mit fast 40 Jahren nach Israel über. Die Entscheidung fällt ihr nicht leicht, aber die Wärme und Einfachheit der deutschen Emigrant:innen, die sie schon auf vorherigen Reisen in Tel Aviv kennengelernt hat, ziehen sie an. Sie arbeitet als Kurzfilmregisseurin, begründet als Dozentin an der Universität Tel Aviv den Fachbereich Medienpädagogik, schreibt mehrere Lehrbücher über Filmtheorie und -ästhetik und hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung der israelischen Filmbranche. In Israel lernt sie außerdem den Jazz-Saxofonisten Mel Keller kennen, heiratet ihn und adoptiert eine Tochter.

Darmstadt hatte Helga nach ihrer Auswanderung nie mehr besuchen wollen. Doch ihre Autobiografie „Farbig in Moll“, in der sie von ihrer Kindheit und frühen Jugend in Darmstadt erzählt, bringen sie wieder in Kontakt mit ihrer einstigen Heimat. „Ich begegne der Stadt mit gemischten Gefühlen. Es lebten und leben so viele liebe Menschen hier. Es ist für mich unmöglich zu begreifen, dass diese Menschen mich plötzlich ausgestoßen hatten“, sagt Helga bei einem Besuch. 2010 reist der Darmstädter Filmemacher Christian Gropper zu Helga nach Tel Aviv, um ein Interview mit ihr für die Gedenkstätte der Liberalen Synagoge in Darmstadt aufzunehmen. „Das war eine sehr wache und imponierende Begegnung“, erinnert sich Gropper, „wir haben sehr lange, emotionale Gespräche geführt. Sie war allerdings besorgt, dass man sie durch den Film als alte Frau in Erinnerung behalten könnte, und nicht als das junge Mädchen, das sie in ihrem Buch ist.“

Helga und Gerda Keller auf Reise in Frankreich in den 80ern | Foto: Karen Fiss

Kunst als Mittel des Widerstands gegen die Düsternis des Lebens

2013 stirbt Helga Keller im Alter von 91 Jahren in ihrer israelischen Heimat. Wer Helga ganz besonders gut in Erinnerung hat, ist die Kunsthistorikerin Karen Fiss, die im Herbst 2022 aus den USA, wo sie eigentlich lebt, nach Darmstadt gekommen ist, um mehr über das Leben ihrer Großeltern, ihrer Mutter Gerda und ihrer Tante Helga herauszufinden. „Als Kind habe ich meine Tante nicht so oft gesehen“, erzählt sie, „aber als ich erwachsen wurde, stand ich ihr sehr nahe und sie war beinahe eine Art ‚Ersatzmutter‘ für mich, weil meine Mutter recht früh gestorben ist. Meine Tante war extrem charismatisch, wissbegierig und …“ – Karen schmunzelt – „… sehr selbstbewusst. Sie hatte sehr intensive, graublaue Augen und eine wunderschöne Stimme, die der meiner Mutter sehr ähnlich war.“ Die beiden Schwestern Helga und Gerda sprechen im späteren Leben hauptsächlich Englisch miteinander, erinnert sich Karen. Nur manchmal, wenn sich eine Redewendung nicht übersetzen lässt, wechseln sie ins Deutsche. Die Geschichte der Familie May ist eine beeindruckende. „Kreativität war ihr Umgang mit der Dunkelheit“, meint Karen, „Kunst ihr Widerstand gegen die Düsternis des Lebens.“

In der Riedeselstraße 21 steht mittlerweile ein anderes Haus. Im Garten schwankt eine große Tanne im Wind. Ob sie wohl schon da stand, als Siegfried May 1938 hier festgenommen wurde? „Mit dem Gefühl des Andersseins habe ich von Kind auf gelebt, es ist ein Teil von mir geworden. Das ist die Erbschaft der Hitlerjahre, das ist meine psychische und seelische Behinderung, aus der ich niemals herausgewachsen bin“, schreibt Helga in ihrer Autobiografie. An einer Regenrinne am Haus in der Riedeselstraße klebt ein „Kein Mensch ist illegal“-Sticker.