Seit ich fortgeschrittenen Alters bin und drei Kinder großzuziehen versuche, befasse ich mich pädagogisch orientiert mit den Sinnesorganen: Meine Kinder sollen das Leben haptisch erfahren, sie sollen den Bio-Gemüsebrei fühlen dürfen, bevor sie ihn schmecken. Sie sollen sich auf Tast- und Fühlpfaden an romantischen Orten im Odenwald weiterbilden – und überhaupt soll alles sinnlich und gefühlvoll bleiben. Auch beim (Fern-)Sehen bemühe ich mich, dass sie vorwiegend die Astrid-Lindgren-Welt vor Augen bekommen. Es ist wichtig, dass die Kleinen das Leben direkt erfahren  und berühren, dass sie viele Eindrücke in ihrer Umwelt sammeln und daraus Erfahrungen schöpfen können.

Parallel dazu frage ich mich aber mehr und mehr, wie meine eigenen Sinnesorgane –  zumal ebenfalls fortgeschrittenen Alters und entsprechend in gebrauchtem Zustand – die Fremdeinflüsse meiner Erwachsenenumwelt noch aushalten sollen. Morgens in der Schnelllinie 6 auf dem Weg zur Arbeit: Neben mir eine schicke, junge Frau im Anzug, offensichtlich auf dem Weg zu ihrer PR-Agentur nach Frankfurt. Sie tippt eine Nummer in ihr Handy und kurze Zeit später höre ich sie im Gespräch mit der Sprechstundenhilfe ihres Zahnarztes. Unweigerlich erfahre ich den Hergang ihrer Wurzelbehandlung, wo sich nun die vereiterten Stellen befinden und dass ein Termin dringend notwendig sei. Untermalt wird die Szenerie von dem denkbar schlechtesten Hip-Hop-Sound eines billigen MP3-Players ein paar Sitzplätze weiter hinten, dessen Besitzer sich jedoch dadurch in seinem Gefühl des Cool-Seins bestätigt zu fühlen scheint. „Du waaßt ganz genau, des isch Disch net betrüg’“, beteuert der Busfahrer (!) im H-Bus kurz vorm Luisenplatz, sich per Handy mit seinem „Schnuckelsche“ unterhaltend und die letzte Nacht aufarbeitend – und auch hier muss ich mich ob der lauthals verkündeten Intimitäten fremdschämen.

Neben meinem Sinnesorgan „Ohr“ muss auch noch das Sinnesorgan „Nase“ auf übelste Weise herhalten. In meiner Mittagspause am Bahnhof verfolgt mich der sich überall verbreitende Geruch von McDonald‘s, der sein Gebiet penetrant markiert und selbst die Knofischwaden von Dönerbuden geruchsneutral erscheinen lässt. Und wenn ich abends ausgehe, bleibt es ebenso „dufte“: Während vor der Zeit des Rauchverbots Kneipen und Konzerthallen nur neblig und verraucht waren, verströmen sie nun eine schier unerträgliche Vielfalt von Gerüchen. Der Genuss meiner Lieblingsmusik in Live-Form wird massiv beeinträchtigt, weil der Typ neben mir so mächtig nach Drei-Tage-Schweiß duftet, dass auch das übertrieben verschwendete Billigparfum seiner weiblichen Begleitung dies nicht auszugleichen vermag. Beim Tanzen wird mir übel, weil es um mich herum nach Wodka-Red Bull riecht. Ungern möchte ich auch noch auf weitere tatsächlich erlebte Steigerungen dieser Geruchsattacken im öffentlichen Raum eingehen.

Fast nostalgisch erinnere ich mich daran, wie meine Klamotten am Tag nach der Party einfach nur nach kaltem Rauch  dufteten, oder an die beinahe peinliche Stille in Zügen und Bussen. Heute sind unsere Sinnesorgane ständig unfreiwillig Stress ausgesetzt, der in meinem Fall dazu geführt hat, dass ich seit kurzem wieder in vielen freien Minuten zur Zigarette greife: Fühlen, Schmecken und Tasten in einem, das mutet doch fast schon puristisch an und erinnert an die Erfahrungen aus der Kindheit, als ich mich stundenlang an einem auf dem Fußboden entdeckten Gegenstand erfreuen konnte, ihn anschaute, anfasste, daran lauschte und auch mal probierte…