Foto: Jan Ehlers

Sport verbindet. Ein ganz besonderes Integrationsprojekt hat die Darmstädter Capoeria-Gruppe „Centro Culturo de Capoeira São Salvador” initiiert. Seit einem Jahr nehmen Geflüchtete am Training teil, finden Anschluss sowie Anerkennung in ihrer neuen Heimat und lernen gleichzeitig auch brasilianische Kultur kennen.

„Das hab‘ ich ja noch nie gesehen!“, sagt eine Passantin auf dem Marktplatz mit erstauntem Blick auf das Geschehen vor ihr. Neugierig beobachtet sie einen singenden und klatschenden Kreis Menschen, von denen drei der Teilnehmer ein ihr unbekanntes Musikinstrument spielen. Zwei weitere befinden sich in der Mitte der sogenannten „Roda“ (portugiesisch für „Kreis“). Die beiden bewegen sich – einander immer zugewandt – im Takt der Musik. Diese bestimmt die Geschwindigkeit der flüssigen Bewegungen (Movimentos), einer Mischung aus kontrollierten Sprüngen, Handständen und weichen Angriffsmanövern. Unmittelbarer Körperkontakt wird jedoch stets durch artistische Ausweichbewegungen verhindert.

Capoeira – was ist das eigentlich?

Was das denn sei, fragt die Zuschauerin: Akrobatik? Kampfsport? Tanz? Capoeira ist ein wichtiger Teil der brasilianischen Tradition: Die besondere Form der Kampfkunst geht auf afrikanische Sklaven im 18. Jahrhundert zurück und wurde bis zum heutigen Zeitpunkt weiterentwickelt. Während der Kolonialzeit in Brasilien praktizierten Sklaven aus verschiedenen Regionen des schwarzen Kontinents einen Kampftanz, der durch den Rhythmus und Takt traditioneller Musik angeleitet wurde. Die hierfür verwendeten Musikinstrumente sind auch heute noch dieselben: der Berimbau (Musikbogen), hergestellt aus einem Stock, einem Draht und einem ausgehöhlten Kürbis, begleitet von einem Pandeiro (Rahmentrommel mit Schellenring) und einer Atabaque (Trommel). Die Lieder werden heute auf Portugiesisch gesungen und erzählen oft von den Schicksalen der Sklaven.

Die auf dem Darmstädter Marktplatz für Aufsehen sorgende Gruppe Capoeria SSA wurde von „Meister“ Mestre Macaco Apollones gemeinsam mit Mestre Zezo Anfang 2000 in Salvador da Bahia, Brasilien gegründet. Laut ihrer Homepage ist Capoeira SSA nun schon seit zehn Jahren unter der Leitung von Mestre Macaco auch in Darmstadt, ihrem Hauptsitz, und Fulda vertreten. Trainingseinheiten finden außerdem in Groß-Umstadt, Münster (bei Dieburg), Seligenstadt, Griesheim und Eppertshausen statt. In Münster hat die Gruppe unter Leitung von Trainer Formado Camundongo, mit bürgerlichem Namen Antonio La Delfa, mittlerweile ein sehr erfolgreiches Projekt gestartet: die Integration junger geflüchteter Männer.

Ein neues Projekt für die Gruppe

Der gebürtige Italiener und hauptberufliche Capoeira-Coach brachte die Geflüchteten erstmals mit ins Training. Er hörte durch Bekannte, junge Männer aus den Asylheimen und sozialen Einrichtungen der Umgebung suchten eine sportliche Betätigung. Daraufhin wendete sich Camundongo an die Gemeinde Münster im Landkreis Darmstadt-Dieburg. Diese genehmigte und finanzierte das Projekt, ein Helferkreis und Ehrenamtliche warben schließlich dafür in den Flüchtlingsunterkünften. Und das mit Erfolg: Am ersten Workshop nahmen an die 30 Flüchtlinge teil.

Unter ihnen auch der 24-jährige Mustafa. Er kam vor eineinhalb Jahren von Syrien nach Deutschland, gemeinsam mit seiner zehnjährigen Schwester. Der Vater starb im Krieg, die Mutter und zwei weitere Schwestern schafften es nur bis in die Türkei. Eine vierte Schwester lebt mittlerweile in Deutschland und hat geheiratet. Kontakt zu seiner Mutter und den Schwestern in der Türkei hat Mustafa nur über den Bildschirm seines Handys. Die Bundesregierung verhindert den Familiennachzug. Es ist ungewiss, ob er sie jemals wiedersieht. Doch dieses schwere Schicksal ist dem jungen syrischen Flüchtling auf den ersten Blick nicht anzusehen. Tapfer lächelt er über den Schmerz hinweg. Capoeira helfe ihm dabei, sagt er.

Capoeira gegen Kummer und Sorgen

„Capoeira macht den Stress weg, mit Capoeira fühle ich mich gut“, erzählt Mustafa. Auch der junge Syrer Issa stimmt dieser Aussage zu. Vor etwa einem Jahr traten sie Capoeira SSA bei. Die Gruppe hilft ihnen dabei, Deutsch zu lernen und Anschluss zu finden. Denn die Integrationsarbeit geht hier über das rein Sportliche hinaus. Am Wochenende kommen sie mit auf Workshops, lernen neben der deutschen die brasilianische Kultur kennen und vermitteln diese gleichzeitig durch Aktionen wie einem Theaterstück, das die Gruppe zum Thema Brasilien aufführte. Auch darüber hinaus tragen die jungen Geflüchteten zum Austausch der Kulturen bei: Sie luden ihre Teamkollegen bereits zu sich nach Hause ein, um sie in den kulinarischen Genuss ihrer landestypischen Gerichte kommen zu lassen. Die Gruppe ist ein funktionierendes Netzwerk, ihre Mitglieder sind Freunde geworden. Und doch ist die finanzielle Zukunft des Projekts ungewiss, denn mittlerweile hat die Gemeinde Münster die Förderung gekappt.

Finanzielle Förderung gesucht!

Seit Anfang März steht die Finanzierung in der Schwebe. Trainer Formado Camundongo ist in der Zwickmühle: Er könne schlecht Mitgliedsgelder von den Flüchtlingen verlangen, beklagt er. Im äußersten Notfall ließe sich das aber nicht verhindern – zumindest müssten sie dann einen kleinen Beitrag leisten. Denn die Kosten wie die Miete für die Halle müssen ohne Unterstützung der Gemeinde anderweitig gedeckt werden. In einem ist sich Camundongo jedoch sicher: Das Projekt mit den Flüchtlingen wird aufrecht erhalten. Mustafa und Issa sind glücklich, dass es weitergeht. Capoeira lässt sie den Kummer und die Erlebnisse aus der Vergangenheit für den Moment in der „Roda“ vergessen und in der Gemeinschaft finden Menschen mit Flucht-Hintergrund Anerkennung. Das Miteinander wirkt gegen Abschottung und Isolierung, während Werte wie Zusammenhalt, Gleichberechtigung und gegenseitiger Respekt vermittelt werden.

www.capoeirassa.de

 

Integration durch Sport

Auch die Politik hat die viel beschworene Integrationskraft des (Breiten-) Sports erkannt. Das Förderprogramm „Sport und Flüchtlinge“ der Hessischen Landesregierung wird auch 2017 fortgesetzt. Das Programm fördert Sport- und Bewegungsangebote für Flüchtlinge von Sportvereinen und setzt Trainer ein. In Darmstadt engagieren sich unter anderem die SG Grün-Weiß Darmstadt, SG Arheilgen und SG Eiche.

Weitere Sport- und Bewegungsangebote für Flüchtlinge in ganz Hessen sind in der gemeinsamen Datenbank „Sport integriert Hessen“ des Landes Hessen, des Landessportbunds Hessen und der Sportjugend Hessen gesammelt: www.sport-integriert-hessen.de.

 

Integration durch Musik

In der „Soundkitchen“ im Staatstheater kommen einmal im Monat Geflüchtete und Darmstädter in entspannter Atmosphäre zusammen. Erst wird gemeinsam gegessen, anschließend improvisieren die Besidos und das Soundkitchen Orchestra „musikalische Spezialitäten aus der internationalen Klangküche“.

Staatstheater Darmstadt (Foyer Kleines Haus) | Sa, 22.04. | 12 Uhr | Eintritt: Du entscheidest, wie viel Du zahlst