Sport, der in Darmstadt betrieben wird und – Trommelwirbel – nicht Fußball ist? Vor lauter Lilienfieber ist’s ein bisschen in den Hintergrund geraten, aber: Jawohl, das gibt’s. In unserer Serie „Randsport im Rampenlicht“ stellen wir sie vor, die Sportarten, die (noch) nicht von einem großen Publikum bejubelt werden. Zum Beispiel, weil sie bislang kaum jemand kennt. Oder weil sie eben einfach zu speziell sind, um die Massen zu überzeugen. Oder vielleicht, weil man lieber unter sich bleibt? Wir gucken uns das für Euch aus der Nähe an. Heute: Kickboxen für Frauen in der Tempel Fightschool.
Ich betrete das Gebäude im Gewerbegebiet Nordwest neben einer Auto-Werkstatt. Eine Treppe führt nach oben, vorbei an einer Vitrine mit ganz vielen glänzenden Pokalen. Oben angekommen ertönt von links ein Schreien und ein lautes Klimpern, wie wenn jemand das Gewicht an einem Kraftgerät fünf Kilo höher steckt. Die Luft riecht schon im Gang etwas verbraucht – und auch nach Schweiß. Ich betrete den riesigen Raum, unter mir federn „Airtrack-Matten“ meine Schritte leicht ab. Um mich herum höre ich ein „Ah“ und „Uh“, jemand zieht scharf die Luft ein, er konnte seinem Duell-Partner gerade noch so ausweichen. Das Erste, was ich sehe, ist eine schwarze Säule mit einem schwarz-grauen Gorilla drauf, der die Zähne fletscht: das Logo der Kampfsportschule.
Blut tropft
Vor mir steht ein Junge, den Kopf nach unten gerichtet und die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt. Er atmet schwer und Blut tropft langsam aus seiner Nase auf den Boden. Er macht eine Pause, aber nur kurz, lässt sich versorgen – und dann geht’s wieder weiter mit dem Training. Ich fühle mich wie im Film „Creed“, bei dem die Trainer in den einminütigen Pausen ihre Kämpfer im Ring mit Wasser versorgen, während sie ihnen gleichzeitig kalte Handtücher auf die Stirn und den Nacken pressen.
Disziplin, gedanklich wie physisch, nimmt in der Trainingshalle einen großen Stellenwert ein. Ich bin heute zum ersten Mal hier. Kurz habe ich ein mulmiges Gefühl, im selben Moment überwiegt aber die Vorfreude auf meine bevorstehende Probestunde im Kickboxen für Frauen.
Fliegende Fäuste, konzentrierte Blicke
Fäuste fliegen, die Blicke sind fokussiert, immer starr aufs Gegenüber gerichtet, die Hände angewinkelt, immer auf Brust- und Kinnhöhe, um Schläge rechtzeitig abzuwehren. Die Kursteilnehmerinnen stehen auf Abruf bereit und müssen reflexartig reagieren, wenn der Trainer eine neue Übung ankündigt oder die Anzahl der Wiederholungen erhöht.
In der Mitte der Trainingsfläche steht Sefer Göktepe (45) und ruft laut: „Hey, was ist Euer Problem? Genau zuhören, quatschen könnt Ihr später!“ Sefer hat nach eigenen Angaben von 1999 bis 2005 den Weltmeistertitel im Kickboxen verteidigt, jetzt ist er Trainer und leitet unter anderem meinen heutigen Kurs „Frauen Kickboxen“. Knieschoner und Boxhandschuhe an … los geht’s mit dem Warm-up. Wir starten mit Hampelmännern im Wechsel mit Liegestützen – und zwar machen hier alle die Variante ohne die Knie am Boden. Endlich mal wieder eine richtige sportliche Herausforderung!
Mehr Mindset als Kraft gefragt
Die nächsten Übungen erinnern mich stark an meine HipHop-Tanzstunden: Hüfte mobilisieren und nur den Oberkörper isoliert rotieren. Beim Kickboxen bewegt man hauptsächlich den Oberkörper, der Rest muss fest und angespannt bleiben, damit man bei den Schlägen nicht nach hinten umkippt. Schon ganz zu Beginn der Stunde boxen wir abwechselnd mit links und rechts auf Augenhöhe in die Luft und lernen schnell die klassische Kampfstellung beim Kickboxen kennen: Das Bein mit der schwächeren Hand steht vorne. Bei mir liegt bisher noch alles im grünen Bereich, bis der Trainer sagt: „Jetzt mal alle in die Froschposition, bitte.“ Der Coach nennt so den „Jump Squad“. Das ist eine Kniebeuge, bei der man ganz tief runtergeht, anschließend wie ein Frosch sitzt und dann mit gestreckten Armen hochspringt. Göktepe zählt: „sieben, acht, neun, zehn, zehn, zehn, zehn.“ Ein Ende scheint erst mal nicht in Sicht, hier muss man sich auch mental auf was gefasst machen.
Bis an die eigenen Grenzen gehen
Die Ersten neben mir beginnen schon zu schwächeln und springen bei den Squads nicht mehr ganz so hoch wie am Anfang. Der Trainer schreitet direkt ein: „Die Arme weiterhin schön strecken.“ Auch bei mir brennen die Beine etwas und ich merke, wie der Körper zu arbeiten beginnt. Doch gerade das finde ich cool. Es geht nicht nur ums Boxen. Göktepe, Trainer und Gründer der Tempel Fightschool, sagt, dass man bei den Kursen immer an seine Grenzen komme – und zwar die gesamten eineinhalb Stunden lang. Er möchte die Fitness der Teilnehmerinnen steigern und das bis zum Schluss – ob man will oder nicht. Vor Beginn der Stunde hat er zu mir gesagt: „Talent ist kein Glück, sondern harte Arbeit.“ Der Vorteil: Kickboxen kann so fast jede:r lernen mit etwas Fitness, Disziplin und ein klein wenig Talent. Das kann ich nach dieser Stunde bestätigen.
Angetrieben von französischem Rap
Das Herzstück des Trainings sind verschiedene Kick-Variationen, die wir immer im Duell üben. Im Hintergrund läuft französischer Rap, der antreibt. Im Duell kickt dann die eine – und die andere muss die Schläge mit den Boxhandschuhen abwehren. Im fliegenden Wechsel. Zuerst heißt es, auf Augenhöhe kicken und dann einen Seitwärtshaken setzen. Dabei drehe ich den Oberkörper nach rechts mit der linken Schulter voraus und kicke.
Anschließend müssen wir dem Kick unserer Partnerin ausweichen oder überkreuz von unten nach oben kicken: der sogenannte „Uppercut“. Dabei brennt der Bizeps bei mir ganz schön und mir fällt es zunehmend schwerer, die Arme oben in der Kampfstellung zu halten. Aber ausruhen kann man sich nie, denn zwischendurch baut der Trainer auch Kraftübungen ein. Wir liegen auf dem Boden. Die Kälte kriecht mir langsam den Rücken hoch. Meine Trainingspartnerin legt ihre Füße auf meine. Dann machen wir Crunches und klatschen uns oben nicht ab, wie man es vielleicht von Paarfitnessübungen kennt, sondern boxen. Das sorgt noch mal für den Extra-„Kick“ an Motivation.
Gleichgewicht halten bei Highkicks
Sobald nur ein leichter Geräuschpegel aufkommt, geht der erfahrene Kickboxer Göktepe dazwischen und motiviert, weiter konzentriert dranzubleiben: „Hey, aufpassen, den Kopf ausschalten und den Alltagsstress mal kurz vergessen.“ Danach geht er weiter von einem Zweikampf zum anderen, um die Haltung zu korrigieren. Am schwierigsten ist der Highkick, bei dem man mit dem rechten Fuß bis auf Schulterhöhe vorstoßen muss. Um nach einem solchen Kick mit dem Bein direkt wieder in die Kampfstellung zu gelangen, braucht man schon ordentlich Gleichgewicht. Bea steht mir gegenüber und zeigt mir, wie das gemacht wird. Sie ist schon über ein Jahr dabei. Nach dem fünfzehnten Highkick hat es aber bei mir auch schon ganz gut geklappt. Dieser Move macht auch das Kickboxen aus. Der Sport ist eine Melange aus verschiedenen Kampfsportarten, zum Beispiel Karate und Thaiboxen.
Intervalltraining kombiniert mit Boxen
Als schon alle denken, dass der Kurs vorbei ist, geht es noch mal richtig los. „Alle an die Boxsäcke“, gibt der Trainer den Ton an. Um jetzt noch Gas geben zu können, braucht man schon Kondition. Wir boxen zwei Minuten immer im Wechsel mit einer Minute Unterarmstütz am Boden. Das ganz schnelle Boxen gegen den Sack ist deutlich anstrengender als das Boxen in die Luft. Es fühlt sich an wie eine Kraftübung am Gerät im Turbomodus. Zudem kann ich quasi acht Minuten am Stück die Arme nicht ausschütteln. Göktepe pusht uns noch mal richtig. Wir seien hier nicht im Fitnessstudio, wo viele nur kurz fürs Foto posen würden. Die eine oder andere gibt hier zwischendrin auf. Eine Teilnehmerin muss sogar komplett abbrechen. Sie ist rot angelaufen.
Hemmnisse überwinden
Am Ende laufen wir uns in Zweierreihen entgegen und klatschen uns ab wie beim Fußball nach einem Spiel – nur mit Boxhandschuhen. Alle sind sichtlich erleichtert und schon ziemlich müde. Ein langes Ganzkörperworkout mit intensiven Intervalleinheiten liegt hinter uns, für den ehemaligen Profi-Kickboxer wahrscheinlich nur eine abgespeckte Version seines Warm-ups.
Dass im Kurs Anfängerinnen wie ich mit Fortgeschrittenen wie Bea zusammen trainieren, ist Normalität. Man wechselt während der Boxübungen auch die Partner. Sefer Göktepe möchte alle motivieren: „Wenn nur Anfänger zusammen trainieren, kann sich ja keiner weiterentwickeln.“ Nur die Kraft des Gegenübers muss mit der eigenen übereinstimmen. Viele Frauen wie Bea nutzen so den Frauenkurs, um erste Hemmnisse zu überwinden. „Das ist das, was ich durchs Boxen am meisten gelernt habe: Vertrauen in mich selbst zu haben“, erklärt sie mir nach Kursende. Und das geht nicht nur Bea so.
Mitmachen
Das Kickboxen für Frauen findet immer montags und mittwochs von 18.30 bis 20 Uhr in der Otto-Röhm-Straße 55 statt. 14 Tage lang kann man alle Kurse gratis ausprobieren. Eine Besonderheit hat die Darmstädter Tempel Fightschool neben dem Kurs speziell für Frauen noch: Wer hier trainiert und nach dem Training noch Kraft hat, kann zu den Öffnungszeiten der Kampfschule auch diverse Kraft- und ein paar Cardiogeräte kostenlos nutzen.