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Foto: Jan Ehlers

Sport, der in Darmstadt betrieben wird und – Trommelwirbel – nicht Fußball ist? Vor lauter Lilienfieber ist’s ein bisschen in den Hintergrund geraten, aber: Jawohl, das gibt’s. In unserer Serie „Randsport im Rampenlicht“ stellen wir sie vor, die Sportarten, die (noch) nicht von einem großen Publikum bejubelt werden. Zum Beispiel, weil sie bislang kaum jemand kennt. Oder weil sie eben einfach zu speziell sind, um die Massen zu überzeugen. Oder vielleicht, weil man lieber unter sich bleibt? Wir gucken uns das für Euch aus der Nähe an. In dieser Ausgabe: Kung Fu in der Yu Shui Dao Kung Fu School Germany in Eberstadt.

Wenn ich an Kung Fu denke, denke ich abwechselnd an einen beneidenswert tief in sich ruhenden Mönch und an Jackie Chan, als unbesiegbaren Superhelden. Beides gute Vorbilder, wie ich finde – zumindest Grund genug, dass ich mir mal anschauen möchte, was es mit diesem Kung Fu auf sich hat. Und weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich lieber Mönch oder Jackie Chan sein möchte, nehme ich an allen drei Kursen Teil, die donnerstags für Erwachsene auf dem Programm stehen: Los geht’s mit Kraftaufbau beim Chang Quan, danach Qi Gong, Arbeit mit innerer Energie, und zum Abschluss Chen Taijiquan, das kennen viele sicher mindestens mal von den schattenboxenden Taiji-Gruppen, die man im Park öfter sieht.

Augen auf und machen!

Dass ich die drei Stunden durchhalte, stelle ich zum ersten Mal nach rund fünf Minuten in Frage. Denn beim Chang Quan geht es wie gesagt um Kraft und Struktur, hier wird quasi die Basis trainiert, mit ausladenden Bewegungsabfolgen, die an eine Mischung aus Boxen und Tanz erinnern. Kraftvoll und dabei elegant (also nicht in meinem Spiegelbild, aber bei den Profis dafür umso mehr). Und es ist wahrlich anstrengend. Ohne große Vorwarnung geht es auch einfach los und ich versuche, so gut ich eben kann, die Bewegungen nachzuahmen. Zur Strukturierung der Übungen, deren Namen ich mir durchweg nicht merken kann, wird auf Chinesisch bis zehn gezählt, was alle im Raum auch können. Und mir wird schnell klar: Der Name ist Programm, für die großen Fähigkeiten ist tatsächlich ausdauerndes und diszipliniertes Üben notwendig. Außerdem: Geduld und Konzentration. Und beides liegt während des ganzen Kurses in der Luft. Hier wird nicht herumgealbert, alle achten auf sich und sind darauf bedacht, ihr Bestes zu geben. Und mehr als das. Als meine Oberschenkelmuskeln beim Halten einer Kniebeuge nach mehreren Minuten anfangen zu zittern und so heiß werden wie nie zuvor, traue ich mich entsprechend einfach nicht aufzuhören. Weil ich so das Gefühl habe, dass Aufgeben nicht zur Kung-Fu-Mentalität gehört. Und, weil auch sonst alle durchhalten.

Ein strenger Lehrer hat gute Schüler

Ziele fokussieren und sie durch Disziplin erreichen, und zwar ohne viele Worte zu verlieren – Robin Saar, der Gründer der Schule, erklärt mir später, dass genau das das Prinzip ist, nachdem er und seine Coaches lehren: Augen auf und machen! Es geht darum, die Dinge anzunehmen und dabei nicht so viel zu denken und zu hinterfragen. Und ich merke: Das fällt mir schwer, denn das bin ich aus meinem Alltag nicht mehr gewohnt – und ich hätte für manche Übungen am liebsten eine schriftliche Anleitung.

Dankenswerterweise wird hier aber niemand komisch beäugt, wenn er mal nicht hinterher kommt, es herrscht eine familiäre Atmosphäre. Die Mitglieder der Schule tragen beim Training einheitliche Shirts mit dem Schullogo und eine schwarze Hose. Das unterstützt das Gefühl, dass hier alle gleich sind und Unterschiede beim Betreten der Schule abgelegt werden. Man ist nett und hilfsbereit, aber bei den Übungen schon auch strikt, ganz nach dem Motto: Ein strenger Lehrer hat gute Schüler. Die Coaches leiten an, Wege zu gehen, Dinge zu erreichen, die man sich selbst nicht zugetraut hat – und führen die Schüler dadurch über die eigenen Grenzen.

Vielmehr eine Haltung als ein Kampfsport

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Foto: Jan Ehlers

Kung Fu steht auf drei Säulen: Selbstverteidigung, Gesundheit und Philosophie – das eine baut jeweils auf dem anderen auf. Das spiegeln auch die drei Kurse ganz gut wider, die ich besucht habe. Sind Muskulatur und Körper „von außen“ kräftig genug, kann man „innen“ verändern: Nach dem Kraftaufbau beim Chang Quan – das mir übrigens einen ziemlich spektakulären Muskelkater beschert hat – geht es weiter mit Qi Gong. Hier geht es darum, den eigentlichen natürlichen Zustand wieder herzustellen, zu lernen, mental, physisch und energetisch eingerichtet zu sein, sich also im wahrsten Sinne des Wortes zu erden. Erreicht wird das unter anderem in einer rund 20-minütigen Standmeditation, dem Zhanzhuang (übersetzt: Stehen wie ein Baum). Ziemlich spannend und überraschend, wie anstrengend es ist, sich so bewusst stehend mit dem eigenen Körper und Empfindungen wie Taubheit, Schmerzen, Müdigkeit oder Wärmegefühl zu beschäftigen. Und dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Gedanke dahinter: Durch diese Aufmerksamkeit lernen, Spannung und Entspannung des Körpers zu regulieren, unter anderem, um das entsprechend neugewonnene Kraftpotential gezielt in den Kampfkünsten einsetzen zu können. Und überhaupt: mal in sich reinzuhören.

Im dritten Teil meines Kung-Fu-Abends steht Chen Taijiquan auf dem Programm, die Arbeit mit innerer Energie – und das ist eigentlich auch das, was den Kern der Schule ausmacht: Weil Chen Taijiquan eben die drei Säulen des Kung Fu vereint, erklärt Robin. Die Übungen verbinden die Bewegungen der Selbstverteidigung mit der Führung der inneren Lebensenergie, dem Qi. Durch diese Symbiose gewinnt es sowohl seinen gesundheitlichen als auch kämpferischen Nutzen. Und die Kombination aus fließenden sanften und kraftvollen dynamischen Bewegungen ist auch ziemlich schön anzusehen – wenn sie erstmal sitzen, also sie jemand ausführt, der im Sinne des Kung-Fu-Gedankens jahrelang ausdauernd geübt hat.

Wie ein Fisch, der im Strom des Wasser gleitet – egal, wie wild die Wellen an der Oberfläche sind

Wie zum Beispiel Robin Saar, der die Yu Shui Dao Kung Fu School gegründet hat. Interessant fand er Kung Fu eigentlich schon immer. Aber das erste Mal eine Kung-Fu-Schule besucht hat Robin erst mit Anfang 20. Dafür ging dann alles umso schneller: In Frankfurt fand er seinen ersten guten Lehrer, es folgten viele längere Aufenthalte in China. Eine intensive Zeit, in der er viel gereist ist, viel trainiert hat und in der ihm klar wurde, dass das sein Ding ist, dass Kung Fu sein Lebensmittelpunkt sein soll. 2010 mietete Robin einen ehemaligen Gemüseladen in Eberstadt an und baute ihn zu einer authentischen Schule um: ein kleiner Raum und ein Hinterhof, der bei gutem Wetter mitgenutzt wird. Seit 2014 gibt es eine zweite Schule in Berlin, Anfang 2016 kam eine dritte in Niedersachsen dazu. Seinen Hauptwohnsitz hat der 34-Jährige inzwischen in der Hauptstadt, aber die meiste Zeit ist er unterwegs, schaut in den Schulen vorbei oder gibt Workshops. Der Name der Schule, Yu Shui Dao, bedeutet übersetzt übrigens soviel wie „Fisch, der im Strom des Wassers gleitet – egal wie wild die Wellen an der Oberfläche sind“. Und das ist nicht nur ein ziemlich schönes Bild, sondern fasst eigentlich alles zusammen, was ich in meinem kurzen Exkurs über Kung Fu gelernt habe.

Fazit: Eine recht ganzheitliche Sache ist dieses Kung Fu. Wer sich intensiv damit beschäftigt, kann sich nicht nur bei Bedarf verteidigen, sollte es mal überraschend zu einem Straßenkampf kommen, sondern lernt auch, in sich zu ruhen, während um einen rum der ganz normale Alltagswahnsinn tobt. Und ich sehe die Taiji-Gruppen, die man auch in Darmstadts Parks immer mal wieder erspäht, jetzt mit ganz anderen Augen – und freue mich für sie, wie sie da so in sich ruhend ihre Energien fließen lassen und sich herzlich wenig dafür interessieren, ob sie von vorbeikommenden Studenten, Skatern und Radlern (und bis vor kurzem auch von mir) für ihr meditatives Schattenboxen belächelt werden. Ausprobieren!

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Foto: Jan Ehlers

Mitmachen: Für wen ist das was?

Kung Fu deckt ganz viele sportliche, gesundheitliche und geistige Aspekte ab – hier kann jede und jeder mitmachen und etwas für sich herausziehen, ohne Vorkenntnisse, Alter egal. Und vor allem kann man es auch einfach mal kostenlos ausprobieren: Schreibt eine Mail an info@kungfu-school.de und macht einen Termin fürs Probetraining aus. Übrigens: Es gibt auch Kurse für Kinder.

Und wer gleich so richtig einsteigen mag: Vom 30.09. bis 02.10. findet im Forsthaus Fasanerie in Darmstadt ein rundum authentisches Kung-Fu-Wochenende statt: Fühlt Euch drei Tage lang wie Kung-Fu-Schüler in China, vom täglichen achtstündigen Training bis zum Essen.

Und wer Lust auf Taiji mit Meerblick hat: Vom 03.10. bis 08.10. wird ein Workshop auf der Nordseeinsel Juist abgehalten, der auch für Anfänger bestens geeignet ist, um mal eine Pause vom Alltag zu nehmen.

Mehr Infos bekommt Ihr auf www.kungfu-school.de und unter info@kungfu-school.de.