Sachspenden, ehrenamtliche Arbeit, eine Solidaritäts-Kampagne und ein Willkommensfest mit „Dinner in bunt“: Zahlreiche Darmstädter haben in den vergangenen Wochen geholfen, wie und wo sie konnten, um die in Darmstadt angekommenen Flüchtlinge beim Start in ihr neues Leben zu unterstützen. Individuell und nachhaltig wirkt, wer eine persönliche Patenschaft übernimmt. Das hat ein Darmstädter Ehepaar getan.
Navid Neschat-Mobini (50), IT-Berater, und Ulrike Liebig (48), Architektin, haben die Patenschaft für zwei Flüchtlinge aus Afghanistan übernommen. Seit fast drei Monaten betreuen sie Mohammad und Shukur. Beide haben eine lange, beschwerliche Flucht hinter sich. Sie haben sich in der hessischen Erstaufnahmestelle in Gießen kennengelernt und leben heute zusammen in einer Wohnung in Darmstadt. Da beide kein Deutsch oder Englisch können, spricht und übersetzt Navid aus dem Persischen – er selbst stammt aus dem Iran.
Wobei unterstützt Ihr die beiden Flüchtlinge? Wie funktioniert so eine Patenschaft?
Navid Neschat-Mobini: Oft sind das ganz alltägliche Dinge: Wir helfen ihnen, verschiedene Dinge zu besorgen, sei es Geschirr, Kleidung, einen Fernseher – oder organisieren jemanden, der die kaputte Dusche in ihrer Wohnung reparieren kann. Außerdem unterstützen wir sie psychisch, indem wir mit ihnen wegfahren, in die Stadt oder zum Beispiel an den Woog gehen. Gerade haben wir zusammen einen Ausflug nach Heppenheim gemacht. Wir gehen auch zusammen zu den Ämtern und ich übersetze ihnen die Briefe von dort. Wir sind mit Shukur zum Arzt gegangen, als er krank war, oder mit Mohammad zum Optiker, weil er eine Brille brauchte. Anfangs haben wir uns erst einmal getroffen, Kaffee getrunken und dabei kennengelernt. Jetzt sehen wir uns meistens einmal in der Woche.
Das klingt fast ein bisschen wie das, was Eltern mit ihren eigenen Kindern machen …
N: Im Prinzip schon. Mohammad und Shukur sind ja auch mit 18 und 19 Jahren noch sehr jung. Wir möchten die beiden Jungs ein bisschen an die Gesellschaft heranführen. Ja, es ist eigentlich wie eine Eltern-Kinder-Beziehung.
Ulrike Liebig: Ich bin damals zum Sozialkritischen Arbeitskreis [SKA, Anm. d. Red.] gegangen, weil ich das über die Patenschaften gehört hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemanden fest bei uns zu Hause aufzunehmen. Eher, jemanden mit auf Ausflüge zu nehmen und ihnen die deutsche Kultur zu zeigen. Aufgrund unserer zwei Söhne – 15 und 17 Jahre alt – hatte ich erst an minderjährige Flüchtlinge gedacht. Frau Rotärmel, die Mitarbeiterin beim SKA, hat dann aber erzählt, dass die Minderjährigen ganz gut betreut würden. Problematisch wäre es eher mit den Flüchtlingen zwischen 18 und 22 Jahren, die eigentlich noch Kinder, vor dem Gesetz aber volljährig seien und deshalb nicht betreut werden würden.
Lange Wege nach Deutschland
Mohammad ist 18 Jahre alt und stammt aus Afghanistan. Unter widrigsten Umständen ist er nach Deutschland gekommen. Drei Monate hat seine Flucht gedauert. Er möchte gerne studieren und Arzt werden.
Shukur, 19 Jahre alt, ist ebenfalls aus Afghanistan geflohen und war knapp zwei Monate bis nach Deutschland unterwegs. Auf dem Weg hierher musste er zusehen, wie viele Menschen starben – darunter seine zwei Brüder, die er mit auf die Flucht genommen hatte. In Afghanistan war schon sein Vater bei einem Selbstmordattentat ums Leben gekommen. Shukur kann sich vorstellen, in Deutschland zur Schule zu gehen, zu studieren – sein Leben hier zu verbringen. Eben all das tun können, was er in Afghanistan nicht machen konnte.
Wie funktioniert das, wenn man sich für eine Patenschaft entscheidet? Gibt es ein Auswahlverfahren? Formulare?
U: Ich bin recht unvorbereitet und naiv zum Termin beim SKA gegangen. Dort habe ich unsere Situation geschildert und wir bekamen die Telefonnummern von Mohammad und Shukur. Mein Mann fungierte gleich auch als Dolmetscher, so konnten wir sofort Kontakt zu den beiden aufnehmen. [Normalerweise stehen Dolmetscher bereit. Die Stadt hat in diesem Fall bewusst darauf verzichtet, weil einer der Paten Persisch spricht, teilt der SKA auf Nachfrage mit.]
N: Du hast keinerlei Verpflichtungen und musst auch keine Formulare ausfüllen. Und du kannst jederzeit sagen, dass du das nicht mehr leisten kannst.
U: Es liegt völlig an einem selbst, was man machen möchte, und auch daran, in wie weit der andere dich dann in Anspruch nimmt. Es ist nicht klar umrissen, wie das läuft. Ich wusste auch nicht, was mich erwartet. Man probiert es eben mal, und wenn es nicht klappt – das hat auch Frau Rotärmel vom SKA gesagt – dann muss man es eben sagen. Und genau das ist der Punkt: Jeder leistet so viel, wie er kann.
„Jeder leistet so viel, wie er kann“
Was hat Euch zur Patenschaft motiviert? Gab es ein bestimmtes Ereignis?
U: Das kam bei mir durch Facebook. Dort gab es immer mehr Artikel über Flüchtlinge. Und ich habe gedacht: Ich kann es nicht immer nur liken und bedauern, aber nichts tun. Das war mein Beweggrund, die Initiative zu ergreifen. Und ich wusste, dass ich den Leuten direkt helfen will. Da ich die Idee hatte, dass die Jungs mit meinen Söhnen Fußball spielen könnten, hat Frau Rotärmel auch erzählt, dass das kein Problem sei und sie Vereinsbeiträge übernehmen würden. Man hat dadurch als Pate auch keine riesige Belastung. Man muss als Pate für nichts zahlen. Man kann das natürlich machen, wenn man das möchte, muss es aber keineswegs. Einiges wird vom Amt übernommen.
N: Ich wäre selbst gar nicht darauf gekommen, dass man auch so helfen kann. Als wir uns im Juli dazu entschieden haben, war die Lage auch noch nicht so dramatisch wie heute. Die Patenschaft ist natürlich mit etwas Arbeit verbunden, aber letztendlich gibt es positive Energie zurück.
Könnt Ihr die vermeintlichen Ängste gegenüber Flüchtlingen nachvollziehen? Hattet Ihr selbst Zweifel?
U: Nein, Angst hatte ich überhaupt nicht. Man denkt natürlich: Was mute ich mir da zu? Schaffe ich das? Natürlich war ich unsicher, aber ich wusste, es ist richtig, zu helfen. Das denke ich auch nach wie vor.
N: Ich komme zwar nicht aus Afghanistan, aber ich kenne die Kulturkreise zum Teil. Ich interessiere mich auch politisch für diese Region. Man erkennt sehr schnell, dass diese Menschen keine Gefahr für die Familie oder die Allgemeinheit sind.
Was muss sich seitens der Politik, in den Ämtern, oder gar in unserer Gesellschaft ändern?
U: Das Wichtigste ist wirklich die Integration. Ich halte es für sehr wichtig, dass die Flüchtlinge eine Aufgabe haben. Es geht ja uns allen in unserer Gesellschaft so: Wenn wir eine Aufgabe haben, dann fühlen wir uns nützlich, dann funktioniert das. Damit nimmst du auch den Bürgern die Angst. Was ich auch vermisse, ist die psychologische Betreuung. Die Krankenscheine, die sie bekommen, sind ja nur für den Notfall.
N: Ich habe das Gefühl, dass das noch nicht alles so 100 Prozent funktioniert, weil die Ämter überrascht sind. Die haben das Personal nicht. Es gibt zu wenige Informationen, man weiß auch nicht, wo man sich informieren kann und wie man helfen kann. Wenn die Leute wissen, was auf sie zukommt, dann hat man weniger Angst, sich für jemanden verantwortlich zu fühlen. Integration heißt auch, Sprachkurse schneller anzubieten, damit die Flüchtlinge in der Gesellschaft aufgenommen werden. Der SKA ist froh über jede Hilfe und selbst sehr hilfsbereit. Als wir damals hingegangen sind, haben sie sich riesig gefreut.
U: Was mir noch nicht klar ist: Wie bringt man Leute, die knapp 20 sind, dazu, einen Schulabschluss nachzuholen? Die können ja schlecht mit 15-Jährigen in eine Klasse gehen. Mit Abendschule geht es auch nicht, ich glaube, das gibt es nur, um das Abitur nachzuholen. Die Minderjährigen gehen ja zum Teil gleich mit in die Schulen und lernen dort Deutsch. Für die jungen Erwachsenen wird dadurch auch das Studieren schwierig. Die Illusionen und Erwartungen, die sie haben, sind das eine. Was dann realisierbar ist, das andere. Die meisten Jugendlichen in Afghanistan hatten Schule nur bis zur sechsten Klasse, unsere beiden Jungs auch.
Gibt es auch andere Reaktionen, also negativer Art?
U: Nein, eigentlich nicht. Es gibt einige, die sagen: „Ich finde es toll, dass Ihr das macht, aber ich traue mir das nicht zu.“ Sie können sich einfach nicht vorstellen, wie das in den Alltag passen soll. Aber es gibt, wie gesagt, auch Freunde und Bekannte, die gesagt haben: „Ja, das will ich auch tun.“
N: Wir haben uns vor ein paar Tagen mit einer Freundin und ihrer Familie getroffen, die einen Syrer aufgenommen haben. Er spricht überhaupt kein Deutsch oder Englisch und sie können kein Arabisch. Das ist sehr schwer und trotzdem hat sie erzählt, dass er bei ihnen zuhause war und sie sehr viel zusammen machen. Die Kinder haben ihm mit zum Tanzen genommen und er hat dann dort getanzt, getrommelt und Musik gemacht. Es klappt also auch trotz Sprachbarriere.
Wie kann ich eine Patenschaft übernehmen?
„Nur keine Berührungsängste haben“, empfiehlt Marina Rotärmel vom Sozialkritischen Arbeitskreis (SKA), „einfach bei uns melden“. Per Mail: asyl@ska-darmstadt.de oder Telefon (06151) 9675350 oder (0157) 32910507. Der SKA vermittelt behutsam, es gibt Kennenlern-Termine und, wenn die Chemie stimmt, geht’s dann auch ziemlich schnell los mit der Patenschaft.
Darmstadt bleibt weltoffen!
„Darmstadt bleibt weltoffen“, so heißt die neue Solidaritätskampagne der Stadt Darmstadt. Beeindruckt von der beispiellosen Anteilnahme, mit der Darmstädter Bürger, Hilfsorganisationen und Verwaltung in den vergangenen Wochen Menschen in Not aufgenommen und unterstützt haben, soll mit der Initiative die „positive Grundstimmung“ gegenüber Notleidenden aus aller Welt gefestigt werden, so Oberbürgermeister Jochen Partsch. Ziel ist es dabei, nicht nur einen Rahmen für das vielfältige Engagement der Darmstädter zu schaffen – bringt Eure Ideen ein! –, sondern auch eine langfristig erfolgreiche Willkommenskultur zu etablieren. Ein aufgeschlossenes und aufgewecktes Darmstadt, engagierte Akteure auf allen gesellschaftlichen Ebenen, sind auch weiterhin und künftig bei sozial-politischen Herausforderungen wie der Integration unserer Mitmenschen gefragt. Über die Auftaktveranstaltung, das Willkommensfest „Dinner in bunt“ berichtete sogar die BBC.