Foto: Julia Rallwaff

Zwei Darmstädter LSBTI-Aktivist*innen kommentieren: Wie eine demokratiefeindliche Gruppierung in Darmstadt die Regenbogenfahne für ihre Zwecke missbraucht.

Jedes Jahr auf dem Darmstädter Christopher Street Day lassen sich Dutzende Regenbogenfahnen in der bunten Demo-Parade sehen. Sechs Streifen in Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett, ohne Schriftzug, die in dieser Anordnung die hart errungenen Rechte, den beständigen Kampf gegen Diskriminierung und den Stolz der queeren Community symbolisieren. Der Künstler Gilbert Baker hat diese Fahne 1978 entwickelt, um einer Bewegung, die zuvor kaum Chance zum Existieren hatte, ein positives Symbol der Hoffnung zu schenken. Die internationale Bewegung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans* (LSBTI) hat dieses Geschenk als ihre „Pride Flag“ angenommen. Bei der letzten Verwendung in Darmstadt sollte mit ihr das Gegenteil erreicht werden. Von den falschen Leuten.

Ungefähr 50 Jahre, nachdem sie zum Symbol einer weltweiten queeren Emanzipationsbewegung wurde, ist diese Regenbogenfahne Mitte Juni auf einer Demonstration prominent zur Schau gestellt, bei der gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie protestiert wird. Direkt am Banner der Gruppe, die sich „Querdenken“ nennt und mit dem Motto „Versammlung für Familien und Kinder“ auf dem erst kürzlich fertiggestellten Friedensplatz versammelt hatte.

Ein aufmerksamer Blick hinter die bewusst aufgeräumte und freundlich aussehende Fassade zeigt, wer sich hier wirklich versammelt: Zwischen den missbräuchlich genutzten Regenbogenfahnen wehen die Preußenflaggen der selbsternannten Reichsbürger. Die lauten Rufe nach „Freiheit“ lenken fast von den Plakaten ab, auf denen Verschwörungstheorien rund um Virolog*innen, Schutzmasken, öffentlich-rechtlichen Medien, Mikrochips und Impfungen verbreitet werden. Während auf der Kundgebung Kinder malen, spielen und singen, teilen die Verantwortlichen des Organisationsteams in ihren internen Chatgruppen juden-, muslim-, queerfeindliche und rassistische Inhalte [Belege liegen der Redaktion vor]. Die Verstrickung der selbsternannten Freiheitskämpfer und Verschwörungsgläubigen mit der Neuen Rechten ist auf den zweiten Blick unübersehbar. Da hilft auch das Kapern der Pride-Fahne nichts.

Sich der Symbole derer zu bedienen, die man eigentlich verachtet, ist eine immer beliebter werdende Vorgehensweise der jungen Neuen Rechten. In der Werbung würde man von einer Mogelpackung sprechen, im Märchen vom „Wolf im Schafspelz“. Die Grenze zwischen „gut“ und „schlecht“ wird verschwommen. Ihre Strategie, sich vermeintlich bürgerlich zu geben, ist nicht neu. Gerade junge Menschen fallen schnell auf diese Masche herein.

Als die selbsternannte „Demo für Alle“ – 2014 erstmals – mit vielen Kindern und Luftballons in Rosa und Hellblau auf die Straße ging, setzte sie sich „für die Ehe und die Familie“ ein. So einladend Name und Anliegen auch zunächst klingen, so abstoßend ist die eigentliche Intention dahinter: die Darstellung von Sexualkunde-Unterricht an Schulen als „Frühsexualisierung von Kindern“, des Feminismus als Zersetzung einer angeblich natürlichen Ordnung und der Stigmatisierung und Kriminalisierung von sexuellen Minderheiten als „Homo-Lobby“ oder gar Sexualstraftäter. Das sind die Themen, die christliche Fundamentalisten, Leugner von Wissenschaften, Rechtsextreme der AfD und handfeste Neonazis unter dem Deckmantel eines familienfreundlichen und bürgerlichen Anstrichs einen. Wie bei den selbsternannten „Querdenkern“ in Darmstadt und inzwischen auch weiteren Städten.

Dieser Missbrauch ist sehr leicht zu tätigen – es ist nur ein Symbol mit einer positiven Bedeutung nötig, die durch Nachahmung einer Gruppe mit gegenteiligen Interessen ihre Bedeutung wandeln kann, wenn diese oft genug wiederholt wird. Dieser Missbrauch findet sehr bewusst statt, denn er wirkt zunächst ungefährlich und verschleiert die Intention, eine Einigkeit für die Spaltung zu schaffen. 

Man macht es sich zu einfach, die Querdenken-Versammlung in Darmstadt als Versammlung von Spinnern zu ignorieren oder ihre missbräuchliche Verwendung der Symbole demokratischer Bewegungen als Versehen oder gar als legitim zu bewerten. Man macht es sich zu einfach, wenn man glaubt, der Spuk sei vorbei, sobald die Pandemie überstanden ist und wir wieder die Gesichtsmasken abnehmen dürfen. Man macht es sich zu einfach, wenn man glaubt, es ginge hier nur um den Versuch, queeren Menschen ihre Symbole zu klauen. Was nämlich gerade mitten in Darmstadt passiert, ist, dass die Rechte sich eine Plattform nimmt und damit ihren Einfluss ausweitet. Unter anderem auch mit Einschüchterungen gegenüber Politiker*innen, wie jüngst zum Beispiel Oberbürgermeister Jochen Partsch (ihm wurden gebrauchte Mund-Nasen-Schutz-Masken zugesendet … Chat-Screenshots belegen zumindest die Planung dieser Aktion).

Die Corona-Krise wird wahrscheinlich vorübergehen. Doch diese Art der Verdrehung von Symbolen und auch die Strukturen, die sich daraus etabliert haben, werden bleiben. Ebenfalls bleibt der Schmerz und Skandal, dass sich in unserer Stadt Wölfe im Schafspelz versammeln und so viele auf die Fassade reinfallen.