Hand hoch, wer im Mai 2017 gedacht hätte, dass die Lilien noch einmal in der Bundesliga aufkreuzen würden! Damals endete ein zweijähriges Erstliga-Intermezzo, das letztlich jedem vor Augen führte, wie ungleich der Kampf der 98er gegen das Bundesliga-Establishment war.
Auf sieben Siege hatte es SVD 2016/17 im Oberhaus gebracht. Überschaubare 25 Punkte machten überdeutlich, dass die Lilien ihr Gästeticket in der 1. Liga verwirkt hatten. Der Abstand zum rettenden Ufer betrug satte zwölf Punkte. Dazu kam die Hypothek eines Torverhältnisses von 28:63. So war das Märchen des Bundesliga-Aufstiegs 2015 und des noch krasseren Klassenerhalts 2016 erwartbar zu Ende gegangen. Schon zur Winterpause hatte Trainernovize Torsten Frings das Team übernommen. Ein Vorgriff auf die sich abzeichnende Zweitklassigkeit.
Doch im Unterhaus verbrauchte sich der Jungcoach schnell. Er und sein Team hatten nach einem kurzen Hoch zu Saisonbeginn krasse Anpassungsschwierigkeiten an eine Liga, in der die 98er wie ein Fremdkörper wirkten. Schließlich waren sie kein Bundesliga-Absteiger mit Substanz. Die sportliche Heimat war zuvor die 3. Liga und 4. Liga gewesen. Selbst die 2. Bundesliga musste also eher von unten als von oben gedacht werden. Allein die Rahmenbedingungen waren bestenfalls drittklassig. Doch die Lilien erkämpften sich in den Folgejahren mehrfach den Klassenerhalt, um dann in der Spitzengruppe anzuklopfen. Et voilà: Wieder DA!
Solides Fundament
Nun gehen die Lilien also in ihr insgesamt fünftes Bundesligajahr. Eine Glanzleistung, die auf einem solideren Fundament fußt als noch 2015. Das neue Stadion ist nicht mehr aus der Zeit gefallen und passt mit seinem kompakt-britischen Stil ganz gut nach Darmstadt. Die Trainingsmöglichkeiten sind bedeutend besser als damals, die Geschäftsstelle hinkt professionellen Standards nicht mehr hinterher. Und: Mit Carsten Wehlmann ist seit 2019 ein sportlicher Leiter am Ruder, der sein Handwerk versteht. Anders noch als der 2016 überforderte Holger Fach. Im Verbund mit Tom Eilers und dem Präsidium sitzen nicht alle sportlichen Entscheidungen, aber die allermeisten. Und das ist im Business Profifußball keine Selbstverständlichkeit. Wer zweifelt, der darf gerne in Hannover, Schalke, Nürnberg, Hamburg und bei der Hertha nachfragen.
Und dann ist da natürlich noch Torsten Lieberknecht. Ein Typ, der vom Fleck weg so wirkte, als habe er nur darauf gewartet, eines Tages beim SVD aufzuschlagen. Er spricht die Sprache der Fans, ist der Kitt zwischen Klub und Umfeld. Und: Er coacht sein Team erfolgreich. In zwei Saisons holte er mit dem SVD starke 127 Punkte. Das entspricht einem herausragenden Schnitt von 1,86 Punkten. Doch jedem dürfte klar sein, dass es eine Etage höher nicht so weitergehen wird. Holten die 98er in den letzten beiden Spielzeiten zwei- bis dreimal so viele Siege wie sie Niederlagen einfuhren, so wäre es ziemlich normal, wenn sich die Quote nun umkehren würde.
Gegenwind von Medien und Knodderern?
Klar ist, der Abstand der Bundesliga zur 2. Bundesliga ist in den letzten Jahren größer geworden. Das Relegationsduell zwischen dem HSV und dem VfB Stuttgart verdeutlichte die Kluft. Die Qualität eines Bundesligisten ist in puncto Kadertiefe, Tempo und Handlungsschnelligkeit bedeutend besser. Doch die Beispiele Union Berlin oder auch Bochum zeigten zuletzt, dass Teams, die eine Einheit bilden, die Moral beweisen, die ein unterstützendes und ruhiges Umfeld haben, dass die über sich hinauswachsen können. Sie sind freilich die Ausnahme. In der Regel gehen Aufsteiger spätestens in der zweiten Saison wieder runter.
In der neuen Saison wird es also darauf ankommen, eine Einheit zu sein. Eine verschworene Einheit zwischen Fans und Team. Das betonen Lieberknecht und Präsident Rüdiger Fritsch unisono. Der Klub beugte sogar frühzeitig möglichen Trainerdiskussionen vor, indem er Lieberknechts noch laufenden Vertrag um zwei weitere Jahre bis 2027 verlängerte. Die Entscheidung passt zur zuvor von Fritsch im HR getroffenen Aussage, dass es vom Präsidium weiterhin „Lieberknecht“-Rufe geben werde, wenn es einmal nicht so laufen solle. Ob es bei den Fans auch so sein wird? Das werden wir spätestens in der Winterpause wissen. Letzte Saison hatten die Lilien im Pokal gegen die Eintracht und Gladbach immerhin gezeigt, dass sie in diesen Highlight-Spielen konkurrenzfähig waren. Die Aufgabe werde es nun sein, diese Leistungen jedes Wochenende abzurufen, sagte Lieberknecht. Auch die mediale Beachtung in der Bundesliga sehe er für seine Spieler als Herausforderung. Nicht zuletzt von dieser Seite sind kritische Stimmen zu erwarten, sollte sich eine Sieglos-Serie in die Länge ziehen. Dann wird sich auch zeigen, ob die Knodderer die Oberhand gewinnen, oder ob die Fans das Ungleichgewicht zwischen den Lilien und dem Rest – auch und gerade bei den Transferbemühungen – erkennen.
Ambitioniert … warum auch nicht?!
Wehlmann und Lieberknecht wollen auf alle Fälle mutig in die Spielzeit gehen und die Klasse halten. Das wird ein Kraftakt werden. Aber warum sollte er nicht gelingen? Schließlich darf man ja träumen. Käme es zum Klassenerhalt, würde nur noch ein weiterer fehlen – und die 98er hätten genauso viele Erstliga-Spielzeiten auf dem Konto wie ihre „speziellen“ Nachbarn aus Offenbach und Mannheim. Beide sind schon lange nicht mehr in der Beletage zu Gast gewesen: der Waldhof letztmals 1990, der OFC gar 1984. Spätestens das sollte allen zeigen, dass es bei all den Rückschlägen, die in der Bundesliga 2023/24 kommen mögen, sinnvoll ist, eins zu bleiben: positiv. Denn tiefer als in die 2. Liga kann der SVD nächstes Frühjahr nicht fallen. Welch Luxus.
Wie vier weitere Pokalspiele!
Sa, 2.9., 15.30 Uhr: Bayer 04 Leverkusen — SV Darmstadt 98
So, 17.9., 17.30 Uhr: SV Darmstadt 98 — Borussia Mönchengladbach
Fr, 22.9., 20.30 Uhr: VfB Stuttgart — SV Darmstadt 98
So, 1.10., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 — SV Werder Bremen
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!