„Im Herrngarten auf einer Parkbank. Gehe durch den Eingang zwischen Landesmuseum und Staatsarchiv. Links vom Springbrunnen“, hinterließ morganaa am 28. August 2009 als Nachricht im WorldWideWeb. Der erste Hunter, der diesem Hinweis gefolgt war, fand das Buch „Schokolade zum Frühstück“, in einen Plastikbeutel verpackt und mit einem Aufkleber versehen: „Howdy! I´m a very special book. […] I´m travelling around the world. […] Read and release me!”, darunter die Internetadresse www.bookcrossing.com. Auf dieser ist unter dem Pfad „Go Hunting! / Germany / Hessen / Darmstadt“ auch obenstehender Eintrag im Reisetagebuch des Buches zu finden.

„Jeder hat ein Regal voller Bücher, von denen er weiß, dass er sie kein zweites Mal lesen wird. Schenken wir ihnen die Freiheit!“ Mit diesem Gedanken programmierte der Amerikaner Ron Hornbaker, der Erfinder des „Bücherkreuzens“, 2001 die Website, die heute die Welt zur Bücherei macht: www.bookcrossing.com. Vorbild war für ihn die Seite www.wheresgeorge.com, auf der Interessierte die Geldscheine in ihrem Portemonnaie registrieren lassen können, um deren Weg zu verfolgen. Aktuell werden in 130 Ländern weltweit 5.836.718 registrierte Bücher von circa 804.000 Mitgliedern gejagt, gelesen und wieder in die Freiheit entlassen.

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Foto: Lisa Zeissler + Yvonne Mülbert

Bookcrossen geht einfach: Ein Buch, das man auswildern möchte, wird registriert, mit einem Label (–zum Beispiel dem diesem Magazin beiliegenden Aufkleber „P-rachtstücke unterwegs“–) versehen, regendicht verpackt und an einem mehr oder weniger geheimen Ort gelegt. Fundort und Reise des Buches werden im eigens angelegten Journal auf der Bookcrossing-Internetseite veröffentlicht. Und dann geht der Spaß erst los…

Auf diese Weise hat sich eine völlig neue Literaturszene gebildet, die global in Chats und Foren oder bei den monatlichen Treffen lokaler Bookcrossing-Gruppen Buchinhalte und Neuerscheinungen bespricht, Bücher tauscht oder gemeinsam auf Hunting- (sprich: Jagd-), beziehungsweise Release- (wörtlich: Freilass-) Touren geht.

Jagen. Lesen. Freilassen. Ein Spiel, das grenzenlos Anhänger findet. So mancher Bookcrosser berichtet vom innewohnenden Suchtpotential und dem Thrill des Bücherjagens mit seinem subversiven Charakter. Im Moment liegt die Zahl der reisenden Bücher in Deutschland bei 5.700. Damit nimmt die Bundesrepublik den zweiten Platz der Weltrangliste ein, hinter den USA (10.300 Bücher), noch vor dem Vereinigten Königreich (5.223 Bücher).

Den konventionellen Literaturbetrieb beeinflussen die registrierten Exemplare weder negativ noch positiv. Die Befürchtung von Autoren und Verlagen, durch das Bookcrossing Einbußen erfahren zu müssen, erwies sich als unbegründet, eine 2005 angestrebte Klage gegen Ron Hornbaker wurde mangels Tatbestand fallen gelassen. Zaghafte Annäherungsversuche blieben aber ebenfalls weitgehend folgenlos: Von Buchhandlungen oder Verlagen in die Bookcrossing-Szene eingebrachte Bücher wurden nicht stärker beachtet, der MarketingEffekt verpuffte also. Die Mitglieder des nach Amazon.com zweitgrößten Literaturforums im Netz bleiben lieber unter sich. Dafür kaufen viele von ihnen Bücher doppelt: eines für das eigene Buchregal und eines zum Freilassen.

Ein ganz eigener, wunderbarer Nebeneffekt wird einem beim Studieren der Seite bookcrossing.com/hunt bewusst. Wer sich dort einmal durchklickt und die Reisetagebücher der Bücher anschaut, erfährt Geschichten hinter den Geschichten, kann von großem Fernweh gepackt, amüsiert oder tief berührt werden: Auf den Treppen der St. Peter Kathedrale im Vatikan Staat wurde am 8. August das „BBC Italien Phrase Book“ freigelassen. In Brunei wartet seit dem 16. August „The Cowboy´s Ideal Wife“ auf einen interessierten Leser. Im Green Bean auf dem Kandahar Air Filed in Afghanistan liegt die Military Edition von „Psalms 91 God´s Shield of Protection“ und „The Survivor“ bereit. Und seit Ende August könnte man Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ im Beachhouse Backpacker Resort auf den Fiji Islands finden. Diesem Buch würden wir gerne hinterher reisen.

 

Was hält die Literaturszene von Bookcrossing?

Das P wollte es genauer wissen und bat um jeweils ein, zwei Sätze zum Thema.

„Meine Meinung … gemischt. Ich mag den ‚anarchistischen‘ Bücherschrank in der Viktoriastraße. […] Es ist aber schon sehr wichtig, dass noch möglichst viele Leute Bücher kaufen, damit neue veröffentlicht werden können.“
(Alex Dreppec, Dichter und Dichterschlachtorganisator, Darmstadt)

„Bookcrossing hat was von facebooking zum cross selling wegen booklooking fürs crossing all over, ist also was für lonley hearts auf dem lonely planet mit bad feelings fürs good looking out. Macht insgesamt circa 500 Millionen Google-Treffer.“
(Alfred Hofmann, Inhaber des Bessunger Buchladen, Darmstadt)

„In meiner Clique in Stuttgart Ende der 60er Jahre gab es die Intention, Bücher vom Individualbesitz zu befreien. […] Ich finde heute fast alles bemerkenswert, was den Stellenwert von Literatur in dieser Ex- und Hopp-Gesellschaft aufwertet.“
(Ursula Ott, Inhaberin Georg Büchner Buchladen, Darmstadt)

„Ich halte jede Art Wanderschaft von Büchern, außer der in den Papiercontainer, für gut, weil sie Bücher zu Lesern bringt, die sie ansonsten vielleicht nie erreicht hätten.“
(Fritz Deppert, Autor, Darmstadt)

„Wer sollte etwas dagegen haben, unversehens einem schönen Gedanken, einem interessanten Menschen oder einem guten Buch zu begegnen. Bookcrossing schadet dem Buchhandel genauso wenig wie öffentliche Bibliotheken; es wird lediglich die Liebe zu Büchern genährt.“
(Laabs Kowalski, Verleger, Muschel Verlag Köln)

„Da man auch Zugvögel markiert oder mit Chips versieht, um ihre Flugrouten und Rastplätze erforschen zu können, halte ich das Bookcrossing für eine gute Idee, zumal es etwas Subversives beziehungsweise etwas von einer Graswurzelbewegung hat.“
(Henning Ahrens, deutscher Lyriker und Romancier, liest am Donnerstag, dem 15. Oktober, aus seinem „Provinzlexikon“ in der Stadtkirche)

„Ehrlich gesagt, bitte verzeihen Sie meine Unkenntnis, weiß ich nicht einmal was der Ausdruck Bookcrossing bedeutet. Aber ich bin auf jeden Fall dafür …“
(Manfred Wieninger, österreichischer Autor, liest am Freitag, dem 16. Oktober, bei der 4. Darmstädter KrimiNacht in der Stadtkirche aus seinem Roman „Rostige Flügel“)

„Bookcrossing: Das scheint mir ein hoch romantisches Distributionsverfahren zu sein, das als Message ausreichend Medium ist. Die Bücher bleiben in Bewegung und wer weiss – vielleicht wird manch ein Zeit und Ortskoordinaten Rückmeldender auch ein Leser, der sich / dem sich was eincrosst.“
(Herbert J. Wimmer, österreichischer Autor)

„… würde ich gerne tun, aber ich kenne Bookcrossing gar nicht, da muss ich passen, vielleicht generationsbedingte Unbildung?“
(Dirk von Petersdorff, deutscher Lyriker, Essayist und Erzähler, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena)

„So viel schreibe ich, […] um die Frage hinauszuzögern, worum genau es denn bei dem Begriff ‚Bookcrossing‘ gehen soll, muss ich doch gestehen, ihn noch nie gehört zu haben. So stehe ich nun auf dieser ‚Bücher-Kreuzung‘ und weiß nicht weiter.“
(Alois Hotschnig, österreichischer Autor)

„Das Bookcrossing habe ich bis zu Ihrer Frage gar nicht gekannt, aber diese Erfindung mutet mich an, als wollte man, um das Lesen anzuregen, jedem Käufer eines Buchs obendrein ein Lotterielos schenken. Die Mätzchen sollte man lassen: Wer lesen will, der muss sich Bücher besorgen; und wem das zu aufwendig ist, der hat halt Pech gehabt.“ (Hans Werner Kettenbach, deutscher Autor)

„Meiner bescheidenen Meinung nach sollte (zumindest bis der Kapitalismus überwunden ist) endlich ein Produktionsverfahren entwickelt werden, das Bücher nach einmaligem Gebrauch zu Staub zerfallen lässt, damit nicht mehr ganz so viele der wackeren Schriftschaffenden an der Armutsgrenze leben müssen – ‚Bookcrossing‘ wäre damit natürlich hinfällig, aber leere Milchpackungen lassen sich ja mindestens genauso gut mit Nummern versehen und an öffentlichen Plätzen auslegen.“
(Jan Off, Autor, Braunschweig)

„… ich hab so viel um die Ohren, mir fällt gar nichts Schlaues ein.“
(Peter Stamm, Schweizer Autor. Sein im September 2009 bei Fischer erschienener Roman „Sieben Jahre“ schaffte es auf die Spiegel-Bestsellerliste und die Longlist des Deutschen Buchpreises)

 

Beim Bookcrossing gehen Bücher auf Weltreise – ab 14. Oktober 2009 auch in Darmstadt

Jedem Oktober-P 2009 lag ein Aufkleber bei, mit folgendem Aufdruck:

Bookcrossing