Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-1
Foto: Meike & Alexander Heinigk

„Paruresis“ nennt man man die Angst, in der Öffentlichkeit, zum Beispiel also in öffentlichen Toiletten, zu pinkeln. Was ist dran an dieser Phobie? Muss man sie in Darmstadts WC-Landschaft überhaupt entwickeln und inwiefern trägt das Ambiente der Gratispinkelanstalten Darmstadts dazu bei? Dies und mehr wollte das P wissen und schickte das Ehepaar Heinigk auf Forschungsreise durch Darmstadts Überreste der Bedürfnisanstaltskultur. Ein Erfahrungsbericht.

Anderswo sind Klos Kunst: Im schwedischen Uppsala befindet sich die Galerie „London“ in einer öffentlichen Toilette aus dem Jahr 1927. Es gib nur einen Grund, weshalb der etablierte Ort für Fotokunst noch nicht zur dauerhaft geöffneten Galerie umfunktioniert wurde: Es fehlen die Toilettenanlagen. Bei der „Skulptur Projekte Münster“ 2007 würdigte der Künstler Hans-Peter Feldmann den Lokus, indem er die Münsteraner Domtoiletten sanierte und zum Kunstobjekt im öffentlichen Raum stilisierte. Dass man in einem öffentlichen WC auch tanzen kann, zeigte die Berliner Szene kurz nach der Wende im „Sexiland“, einer ehemaligen Bedürfnisanstalt unter der Straßenbahnhaltestelle am Rosenthaler Platz.

Und hier? Auch die Darmstädter Toilettenexkursion – ursprünglich als reine Bestandsaufnahme gedacht – bot Aspekte und Erfahrungen, die durchaus von künstlerischem und nicht nur von organischem Interesse waren. Zwar begann der Ausflug mit einem Schock, denn im Cityklo am Pali-Parkplatz lag ein Drogenabhängiger, und es musste erst einmal der Notarzt gerufen werden. So bestätigte sich das oftmals vorherrschende Unbehagen vor dem Öffnen der Tür einer solchen Einrichtung. Aber ansonsten verdichtete sich das Fast-Immer-Gratispinkeln zu einem humoristischen Comic über das Stadtleben Darmstadts. Die stillen Örtchen sind tatsächlich von Ruhe geprägt. Sie sind nicht dunkel, sondern hell, sie sind zum Teil sauberer als erwartet und ihre Klo-sprüche, Beschilderungen und Graffitis sowie die Bezüge zu den Plätzen, an denen sie sich befinden, erweitern das „Ich muss mal“ zum kleinen Galeriebesuch. Man ist fast geneigt zu hoffen, dass manche dieser Orte mehr Beachtung finden mögen. Das Stillleben eines ausgespülten, zur Kasse umfunktionierten Fleischsalatbechers mit einer einsamen 20-Cent-Münze – wie im Herren-Klo unterm Marktplatz vorgefunden – erzeugt beinahe Mitleid. Und doch drückt es weitaus mehr aus als eine sich automatisch öffnende Schranke einer getuneten Sanifer-Anlage nach Einwurf des Geldstücks. Es ist gar nicht nur das „Pinkeln um jeden Preis“ – es ist auch lustig! Also: Wir müssen bestimmt bald wieder!

 

Notdurft-Notizen:

Die Stadt Darmstadt verzeichnet 18 öffentliche WCs, zwei davon sind reine Urinale, gerade mal zwei davon behindertengerecht. Drei Anlagen trafen wir kommentarlos geschlossen an (Böllenfalltor, Heinrich-Fuhr-Straße am Woog, Friedrich-Ebert-Platz), eine ist nur in der Sommersaison geöffnet (Karlstraße). Die Behindertentoiletten testete und kommentierte für uns ein geübter Rollstuhlfahrer (Dank an Mike Hoenig).

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-5
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Orangerie (an der Haltestelle der Linie 3)

Was: Ladies: Ein Sitz ohne Brille, eine Rinne, keine Seife, keine Spiegel; Männers: Zwei Sitze, rundes Dachfenster, Wickeltisch, kein Mülleimer.

Wie: Einrichtung ist nüchterner gehalten als die Besucher aus dem Park, aber okay.

Unser Wort zum Klo: Pipimachen, bis die Bahn kommt!

 

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-3
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Schleiermacherstraße (Pali Kino-Parkplatz)

Was: Voll automatische, behindertengerechte Wall-Citytoilette, ein Multifunktionssitz

Wie: Raumschiff-Enterprise-Feeling, wenn mit einem „phhht“ nach Einwurf der 30 Cent die Schiebetüren aufgleiten, alles funktioniert per Knopfdruck (man muss aber jeden Knopf berühren). Nach 20 Minuten öffnen sich die Türen automatisch, wer also bis dahin nicht fertig ist, ist nicht zu retten. Wer bis dahin in Not ist, kann eventuell noch gerettet werden.

Unser Wort zum Klo: Haben die Befürchtung, dass wir gleich auf den Lui gebeamt werden.

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-4
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Hermannstraße

Was: Ladies: Ein Sitz ohne Brille, eine Rinne; Männers: Zwei Sitzplätze

Wie: Geruchsmäßig eine Mischung aus Alk, Rauch, Urin und Domestos

Sein Wort zum Klo: Mir gefällt, dass man oberhalb der Rinne extra ein Regal zum Abstellen der Mitbringsel von der Tanke vorgesehen hat.

Ihr Wort zum Klo: Dieses Regal fehlt leider bei den Damen, und deshalb liegen dort lauter Scherben herum.

 

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-2
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Mercksplatz (Jugendstilbad)

Was: Eine Rinne, zwei Sitzplätze (davon einer nicht funktionsfähig); Toiletten sind nur nach Ausleihe des                                  Schlüssels am dahinter liegenden Oase-Kiosk gegen ein Pfand in Höhe von 10 Euro zu nutzen.
Vier Klos, drei offen, Schild an jeder Tür: „Abschließen, sonst außen frei“, Schlösser sind aber defekt.

Wie: Schmuddelig, stinkt nach faulen Eiern, Lagerraum für Schutt

Sein Wort zum Klo: Mords was los hier!

Ihr Wort zum Klo: Kann beim Zurückgeben des Schlüssels die Heimlich-ins-Wasser-Pinkler des Jugendstilbades selbiges verlassen sehen…

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-6
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: (Unterm) Marktplatz

Was: Wickelraum-Hinweis für Väter: „Wenden Sie sich bitte an unser Personal“ (welches dann voraussichtlich sagen wird, dass sich der Wickelraum im Damenklo befindet und Mutti das doch bitte erledigen möge) Sieben Toiletten

Wie: Kundschaft ist (aus der) „Wunderbar“, alles tiptop, sogar Mülleimer in jedem Klo

Unser Wort zum Klo: Einfach wunderbar. Da zahl’ ich auch 30 Cent, ohne Pipi zu machen.

 

 

 

 

 

 

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-7
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Mathildenhöhe (Sabaisplatz)

Was: Ladies: Zwei Sitzplätze, eine blitzblanke Rinne, Terrazzoboden mit Mosaik; Männers: Zwei Sitzplätze, Klobürste eignet sind fast auch zum Zähneputzen

Wie: Passend zum gesamten Areal der Mathildenhöhe architektonisch sehr ansprechend; man muss anstehen, von Kulturinteressierten und Boule-Freaks hoch frequentiert.

Sein Wort zum Klo: Es lässt sich gepflegt im Jungenstil pinkeln.

Ihr Wort zum Klo: Hier will ich müssen müssen!

 

Foto: Meike & Alexander Heinigk
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Friedensplatz (nur Behinderten-WC)

Was: Nur mit speziellem Schlüssel zugänglich, der für 10 Euro beim Club Behinderter und ihrer Freunde (CBF) erworben werden kann und in ganz Deutschland nutzbar ist.

Wie: Entspricht nicht den rechtlichen Vorgaben für Behinderten-WCs. Toilette mit Haltegriffen ist vorhanden, ebenso ein zu hoch angebrachtes Waschbecken. Alarmknopf für den Notfall? Fehlanzeige. Fazit: Wieder einmal ein Ort, den man als Rollifahrer nur schwer alleine aufsuchen kann – wird zum Glück bald ersatzlos abgerissen.

Rollis Wort zum Klo: Eine Toilette mit Galgenfrist.

 

Toiletten-Quartett I Ausgabe 14-9
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Was: Pissoir im orangefarbenen Rondell gegenüber dem Biergarten

Wie: Von außen zwar fotogen, innen aber unerträglich stinkendes, mit Laub und Jägermeisterflaschen
dekoriertes Dreckloch.

Ihr Wort zum Klo: Ich bin froh, dass ich hier gar nicht erst die Wahl habe.

Sein Wort zum Klo: Hier würde ich lieber von außen dagegen pinkeln als von innen.

 

Foto: Meike & Alexander Heinigk
Foto: Meike & Alexander Heinigk

Wo: Alexanderstraße

Was: Pissoir

Wie: Ist außer Betrieb, scheint lediglich noch als „Drückerstube“ zu fungieren – Pinkeln tut hier niemand mehr.

Unser Wort zum Klo: Von außen ist es dem benachbarten Darmstadtium zumindest architektonisch weit voraus.

 

Latrinen-Links

www.kackblog.net

www.gratispinkeln.de